Auf den König der Ostalpen.
Besteigung des Piz Bernina
Von Jana Zieseniß
Erst langsam, dann immer schneller kullert das Geröll neben mir in die Tiefe. Während die meisten Wanderer locker leicht den Berg hinab- oder hinaufsteigen, muss ich mich erst einmal setzen. Nicht, weil ich so sehr aus der Puste wäre, sondern weil die aufkeimende Höhenangst mir meine Kehle zuschnürt und ein sicheres Weitergehen unmöglich macht.
Da sitze ich nun unterhalb des Piz Languard, einem leichten, wanderbaren Dreitausender oberhalb von Pontresina. Eine leichte Eingehtour sollte es werden für mein grosses geplantes Abenteuer, nämlich die Besteigung des Piz Bernina, dem König der Berge Graubündens, der mit seinen über 4000 Metern Höhe tatsächlich nur etwas für erfahrene Bergsteiger ist und dem ich mich trotz Höhenangst in zwei Tagen stellen würde. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Schlüsselmoment am Piz Languard
Konditionell fühle ich mich bestens vorbereitet. Habe ich doch bereits im Januar mit dem Training für mein Bernina-Abenteuer begonnen. Ich bin die Berge in meiner Heimat hoch und runtergerannt, habe meine Muskulatur mit HIIT-Workouts gestärkt und meine Ausdauer bei langen Rennradtouren trainiert. Nur eins konnte ich nicht trainieren: meine Höhenangst.
Dort, im Geröll am Piz Languard sitzend, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass mein 4000er-Abenteuer durchaus scheitern könnte. Und zwar nicht am Wetter (denn das kann immer passieren), sondern an mir. Ich atme noch einmal eine Minute lang tief durch, stehe auf und setze mutig einen Fuss vor den anderen, bis ich schliesslich am Gipfel angekommen bin. Klar, der Piz Languard ist nicht der Bernina, aber ich habe meine Angst selbst bewältigt und den Gipfel alleine bezwungen. Kaputt, aber hoffnungsfroh gehe ich an diesem Abend ins Bett.
Hallo Pickel und Steigeisen!
Doch mein Glücksgefühl über den Gipfelsieg am Languard hält nicht lange. Als ich am nächsten Morgen vor dem Berg an Ausrüstung stehe, den mir die Bergsteigerschule Pontresina zur Verfügung gestellt hat, wird mir wieder mulmig. Auch wenn ich in Chile schon auf einem 5000er stand und bereits eine Hochtour auf den Grossvenediger in Osttirol hinter mir habe: Steigeisen und Pickel habe ich noch nie benutzen müssen. Und auch sonst sind diese beiden Touren vom Schwierigkeitsgrad nicht mit dem Bernina zu vergleichen. Zumindest das Wetter soll mitspielen, erfahre ich in einem kurzen Telefonat mit meinem Bergführer. Er schickt mich noch Proviant besorgen und wir verabreden uns für den nächsten Morgen.
Von Gletscherfeldern und Kletterstellen
Den Rucksack voller Ausrüstung zum Fotografieren und Bergsteigen und wenig Platz für persönliches Zeug, steigen wir gemeinsam in die erste Bergbahn zur Diavolezza. Hier startet der einfachste Weg auf den Bernina. Wobei einfach natürlich relativ ist: Mich erwarten jede Menge Gletscherspalten und Klettereien bis zum dritten Grad. Und das bereits am ersten von zwei Tagen.
Zunächst geht es bergab bis zum Gletscherfeld, welches wir im Anschluss überqueren. Schon jetzt bin ich tief beeindruckt von dem Labyrinth aus Gletscherspalten, durch das mich mein Bergführer Marcel Schenk so mühelos hindurchführt; natürlich angeseilt. Dann wartet mit dem Fortezzagrat die erste Kletterpartie. Ob es an der Entspanntheit und Souveränität von Marcel liegt, oder daran, dass ich schon als Kind gerne geklettert bin: Sobald ich mal beide Hände am Fels habe, ist die Höhenangst praktisch wie weggeblasen. Ganz im Gegenteil, mit jedem Meter habe ich mehr Spass und die Zuversicht steigt, dass die Besteigung des Bernina am nächsten Morgen tatsächlich für mich möglich ist.
Der Kampf mit der Angst
Nach der Kletterpartie geht es weiter über die endlose weisse Weite der Bellavista-Terrasse bis zum Etappenziel, der Marco-e-Rosa-Hütte auf rund 3600 Metern. Und ich lerne: Nicht die Kletterpassagen sind es, die für mich die grösste Challenge sind. Nein, es sind die teilweise zu beiden Seiten steil abfallenden Schneefelder, bei denen ich glaube, uns bei einem falschen Schritt zusammen in die Tiefe zu reissen. Was natürlich Quatsch ist, denn der Schnee ist so weich, dass man trotz der Steilheit bei einem Sturz schon wenige Meter später im tiefen Schnee versinken und stoppen würde. Das jedenfalls versichert mir Marcel, aber sag das mal einer meiner Angst.
Wenn ich nicht gerade gegen sie ankämpfe und mich darauf konzentriere, einen Schritt nach dem nächsten unserem Etappenziel näher zu kommen, bin ich beeindruckt von der fast schon surrealen Welt aus Gletscherspalten, endloser Weite und schroffen Bergspitzen um mich herum. Nein, an so einem Ort war ich noch nie. Und dann liegt die Marco-e-Rosa-Hütte plötzlich vor uns. Alleine die Übernachtung dort ist ein Abenteuer für sich, so ausgesetzt liegt sie angeschmiegt an den Fels, umgeben vom Gletscher und von tiefen Abgründen. Im gemütlichen Gastraum könnte man beim Anblick der Umgebung fast glauben, man schaue aus einem Flugzeugfenster.
Momente, die einem niemand nehmen kann
4.00 Uhr. Trotz unruhiger Nacht im Matratzenlager bin ich sofort hellwach. Es ist noch stockdunkel, als wir die Besteigung des Piz Bernina beginnen. Die erste Stunde stapfen wir ein schier endloses Schneefeld hinauf. Dann geht die Kletterpartie über den Spallagrat los.
Wenn ich ehrlich sein soll: Hätte ich vorher gewusst, was mich erwartet, hätte ich mir die Besteigung niemals zugetraut. Doch jetzt, wo ich dort oben kurz nach Sonnenaufgang am Gipfel sitze, die Nebelschwaden beobachte, wie sie um die umliegenden Bergspitzen ziehen, von denen keine so hoch ist wie die, auf der ich gerade sitze, ist alle Mühe vergessen. Selbst der Gedanke an den bevorstehenden langen Abstieg kann nichts daran ändern.
Der Moment ist einfach nur magisch; ein bisschen so, als würde für einen kurzen Augenblick die Welt stehen bleiben. Trotz aller Anstrengungen und Mühen, trotz des mulmigen Gefühls, wenn ich rechts und links an meinen Füssen vorbei in die unendliche Tiefe starre, fühlt es sich doch so an, als würde ich in diesem Moment genau hierher gehören in diese unwirkliche, lebensfeindliche und doch so wunderschöne Welt aus Schnee, Eis und Felsen.
Dass ich meine Höhenangst überwinden konnte und es tatsächlich auf den Gipfel geschafft habe, kann ich bis heute kaum glauben. Und die Erinnerung, die kann mir niemand mehr nehmen.
Autorin.
Jana Zieseniß
Jana ist Buchautorin, Social-Media-Expertin und als Bloggerin das Gesicht hinter dem Reiseblog «Sonne & Wolken». Unter dem Motto «Die Welt gehört dem, der sie geniesst», reist sie um die Welt, ohne dabei die schönen Orte vor der Haustür zu vergessen – immer auf der Suche nach neuen Abenteuern.