Der Loipenmacher.
Thomas Castelberg
Der Blick aus dem Fenster verspricht wenig Gutes: Graues Gewölk klebt am Berg, kriecht hinunter bis zum Waldrand. Es ist viel zu warm. Und auf dem Bildschirm bestätigen die Meteo-Daten die düstere Vorahnung: Die Schneefallgrenze steigt auf über tausend Meter über Meer. Tauwetter ist angesagt. «Es schifft in den alten Schnee», murrt Thomas Castelberg. «Das kann ja heiter werden.»
Castelberg, 59, in der Gemeinde Sumvitg für den Unterhalt der Langlaufloipen zuständig, fühlt sich an diesem späten Nachmittag ausgeruht und fit. Aber auch hungrig. Spaghetti wären jetzt nicht schlecht, ein schöner Teller voll, mit der würzigen Tomatensauce, die nur seine Frau Simone so gut hinbekommt.
«Wer sechs Stunden lang ohne Unterbruch konzentriert durch die Nacht fährt, braucht ausgewogene Ernährung», weiss Simone. An diesem Nachmittag ergibt sich eine der seltenen Gelegenheiten, bei der die beiden einander sehen können. Simone, die als Pflegerin im Seniorenheim arbeitet, muss derzeit so manche Sonderschicht einlegen. «Oft geben Thomas und ich einander nur noch die Türklinke in die Hand», sagt sie und stellt ihm einen Teller auf den Tisch: Alp- und Geissenkäse, Apfel- und Mandarinenschnitze, Banane, zwei Scheiben Früchtebrot. «Das ist pure Energie!»
Eine der stärksten Loipenmaschinen im Einsatz
231 PS bringen brummend Leben in den stählernen Leib des Pistenfahrzeugs. Beim Prinoth Husky geht es allerdings weniger um Pferdestärken, vielmehr symbolisch um Kraft und Ausdauer eines Schlittenhundes. «Der Husky», sagt Thomas Castelberg, «ist eine der stärksten Loipenmaschinen auf dem Markt.»
Lautlos öffnet sich das Garagentor in Trun, und langsam rasselt das siebeneinhalb Tonnen schwere weisse Monster auf fünf Achsen und zwei Kettenraupen in den Schnee, achtzehn Scheinwerfer leuchten gleissend hell und in alle Richtungen die Umgebung aus.
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert pflegt Thomas Castelberg die touristische Infrastruktur der Gemeinde. Als Gemeindearbeiter ist er für vier Dörfer zuständig – neben dem Hauptort Sumvitg gehören dazu sein Wohnort Rabius sowie die Nachbardörfer Surrein und Cumpadials. Auf dem riesigen Gemeindegebiet müssen im Sommer 360 Kilometer Wanderwege in Schuss gehalten werden. Das Netz deckt über hundert Quadratkilometer ab, von der Glarner Grenze mit dem Tödi im Norden bis zum Tessin im Süden.
Castelberg repariert Brücken, räumt umgestürzte Bäume aus dem Weg – und hat stets Pinsel und Farbeimer zur Hand: «Die vielen weiss-rot-weissen Markierungen am Wegrand müssen alle drei Jahre aufgefrischt werden.»
In den Wintermonaten legt er die Spur in die Loipe, Nacht für Nacht, sechs Stunden lang. Die Strecke, 32 Kilometer, auf beiden Seiten den jungen Rhein entlang, von Trun bis hinauf nach Disentis und zurück, gilt unter Freunden des nordischen Skisports als Geheimtipp. Das Langlaufen erfreut sich in der Pandemie grosser Beliebtheit. «Im letzten und in diesem Winter», schätzt Castelberg, «sind bei uns sechzig bis siebzig Prozent mehr Tagestouristen unterwegs.»
Ganz gratis ist der Loipenspass nicht: Über den Tagespass für 10 oder einen Saisonpass für 140 Franken wird der Aufwand für das Castelberg-Husky-Team finanziert.
Ein vertrauter grauer Schatten
Er kennt hier jeden Baum und jeden Strauch: Ein Vierteljahrhundert lang präparierte Thomas Castelberg die Loipe mit dem legendären Pisten-Bully, bis die für die Sportanlagen zuständige IG Nordic Surselva vor einem Jahr den mit neuester Technologie ausgestatteten Husky erwarb. «Der ist nicht ganz so stark wie der Bully», sagt Castelberg. «Dafür hat er die bessere Spiralfräse»
Noch bevor er präzisiert, huscht ein grauer Schatten über die Piste. Castelberg greift zum Suchscheinwerfer und erfasst mit dem Lichtkegel einen Hasen, der über den Schnee hoppelt. «Ein alter Bekannter», stellt er den Besucher vor. «Der kommt jede Nacht und weist mir eine Weile lang den Weg – gleich wird er sich rechts ins Unterholz schlagen.» Auch die Hirschkuh, die im See beim Campingplatz von Disentis ein Fussbad nimmt, zeigt sich weder vom Scheinwerferlicht noch vom Gerumpel des Husky beeindruckt. «Die Tiere», sagt Thomas Castelberg, «kennen den Husky!»
Das, was du im Heckscheinwerfer siehst, das ist schon nahe an der Perfektion!
Thomas Castelberg
Sein rundum verglaster Arbeitsplatz gleicht mehr dem Cockpit eines Helikopters. Ein Lenkrad sucht man vergeblich, stattdessen werden die beiden Raupen über zwei Schieberegler unter der linken Hand gesteuert, während die rechte einen mit allerlei Knöpfen bestückten Joystick hält. «Damit», erklärt er, «bediene ich die Fräse – das Herz des Husky!»
Aha, staunt der Laie – und Thomas Castelberg erklärt mit leuchtenden Augen, wie sich auch die miserabelste Schnee-Unterlage mit einer optimalen Abstimmung von Anpressdruck, Schnittwinkel und Drehmoment in eine perfekte Piste verwandeln lässt. Und wie sieht die aus, die perfekte Piste? Castelberg lacht: «Dreh dich um und schau hinten raus – das, was du im Heckscheinwerfer siehst, das ist schon nahe an der Perfektion!»
Die Stimme einer jungen Frau meldet sich im Bordlautsprecher: «Hallo Papi!» «Hoi Brida!» Manchmal sitzt das jüngste der drei Kinder auf dem Beifahrersitz. Brida, 26, mehrfach eingeschränkt, ist glücklich, wenn sie mit dem Papi durch die Nacht fahren darf. «I wär gern bi dir!» «Bisch no nid im Bett?» «Jetzt gang i denn grad – ha der no welle Guet Nacht säge!»
Gegen Mitternacht, nach sechs Stunden, ist der Regen in Schnee übergegangen, die Temperatur deutlich unter den Gefrierpunkt gefallen. Und am Dorfrand lässt sich der Skilift von Trun erahnen, mit der Garage, Huskys Hundehütte. «Noch einmal sechs Stunden», sagt Thomas Castelberg, «dann bricht ein strahlender Wintermorgen an.»