Auf Tuchfühlung mit Rettungsschlitten und Sprengstoff.
Hinter den Kulissen der Pistenrettung Scuol
Von Claudia Jucker
Tag 1
Wir steigen an der Station Motta Naluns aus den kleinen Gondeln. Es weht ein bissiger Wind, der im Halbstundentakt den Schnee nach Lust und Laune verschiebt und die Gondeln tanzen lässt. Chasper Planta, der Chef der Pistenrettung Scuol, begrüsst uns freundlich und führt uns in einen kleinen Raum, der an die Bergstation angrenzt. Hier ist Büro und Basislager zugleich. Chasper trägt die unverkennbare rote Jacke mit dem weissen Kreuz. Er ist ein gross gewachsener Mann. Er strahlt Ruhe und Lebenserfahrung aus. Sein Team zählt sieben Männer, fünf davon sind jeweils im Einsatz.
Im kleinen Büro der Pistenrettung, das in etwa die Grösse einer 4er-Gondel hat, stehen bunte Ordner, Ablagefächer, Kalender und natürlich ein PC und ein Telefon. Mehr als zwei Personen passen hier nicht rein. Chasper erklärt, dass zur Pistenrettung und Sicherheit am Berg auch eine Menge Büroarbeit mit dazu gehört. Er und seine Kollegen planen minutiös und unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen Sprengungen am Berg. Sie dokumentieren alles, was rund um die Pistenrettung und die Lawinensicherung passiert. Nichts ist dem Zufall überlassen, kein Risiko wird eingegangen.
Sicherung mit höchster Sorgfalt
Die Lawinengefahr an diesem Wochenende ist erheblich mit Tendenz gross. Einige Lifte sind noch geschlossen. Die Pistenrettung entscheidet, wann welche Piste geöffnet wird. Das kann manchmal zu Diskussionen oder Unmut bei den Skigästen führen. Vielen ist nicht bewusst, welche Abwägungen, Entscheidungen und Aufwände getroffen worden sind, bevor sie zum ersten Mal die Piste herunterfahren.
Es muss gesprengt werden. Der Helikopter war für den frühen Morgen eingeplant, musste jedoch nochmals umdisponiert werden, weil die Sicht zu schlecht war. Jon und Jon Curdin bereiten die Sprengsätze vor, die sie später vom Helikopter aus abwerfen werden. Zündungen und Sprengstoff dürfen erst kurz vor dem Einsatz zusammengeführt werden. Aus Sicherheitsgründen. Die beiden Männer haben eine Sprengausbildung absolviert und arbeiten schon lange zusammen. Sie sind ein eingespieltes Team. Jeder Handgriff sitzt. Das ist ein absolutes Muss.
Für die Lawinensprengungen stehen diverse Sprengsysteme zur Verfügung. Wo es keine andere Möglichkeit gibt, werden die Sprengladungen per Helikopter abgeworfen. Die Flüge sind auf frühmorgens oder abends angesetzt. Dann, wenn keine Leute im Gebiet sind. Es sind aber auch fixe Sprengmasten installiert, mit denen vom Büro aus, in passwortgeschützten Verfahren, Sprengsätze abgeworfen werden können. Und solche, die vor Ort mittels Raketentechnik und Druck in die Lawinenhänge katapultiert werden.
Pistenretter sind passionierte Alleskönner
Die grösste Herausforderung als Pistenretter ist es, stundenlang hier an der Wärme zu warten und dann innerhalb weniger Minuten auf 200 hochzufahren.
Lukas Pistenretter
Die Pistenretter sind Quereinsteiger und nur zwei von sieben arbeiten das ganze Jahr hindurch im Team von Chasper Planta. Im Sommer sind sie hauptsächlich mit dem Ausbau und dem Unterhalt der Beschneiungsanlage beschäftigt. Hinzu kommt der ganze Unterhalt der Pistenmarkierungen und Leitsysteme. Die meisten kommen aus der Bau- oder Forstbranche. Den Beruf des Pistenretters gibt es so eigentlich nicht. Eine Ausbildung dazu aber schon. Alle mussten eine Aufnahmeprüfung und einen Eignungstest machen. Die Ausbildung dauert rund zwei Wochen. Lukas hat die Ausbildung erst kürzlich abgeschlossen. Er zählt auf, was er alles dafür gelernt hat: Gebirgstechnik, Lawinen- und Seilkunde, medizinisches Fachwissen mit Schwerpunkten wie Höhenkrankheiten, medizinische Probleme im Gebirge, richtiges Verhalten bei Lawinenunfällen sowie technisches Wissen, Abtransport und sogar juristische Fakten, die bei einem Unfall wichtig sind.
Wir haben das Privileg, die erste Fahrt auf den frisch präparierten Pisten zu machen und als Letzte ins Tal zu kurven. Was will man mehr?
Lukas Pistenretter
Tag 2
Heute fährt Curdin frühmorgens die Pisten ab, bevor die ersten Gäste die frisch gekämmten Spuren mit ihren Skis und Snowboards verwischen. Er kontrolliert, ob alle Markierungen zu sehen sind und richtet umgefallene Stangen. Ein paar wenige müssen ersetzt werden. Das ist kein Problem. Im Lager gibt es Ersatz. Neuralgische Punkte, an denen es früher häufig zu Unfällen gekommen ist, markiert er mit einem Netz. Slow down, steht da in leuchtenden Buchstaben. Alle paar Jahre werden die Pisten vom Schweizerischen Seilbahnverband kontrolliert und abgenommen.
Schneemessungen fürs Lawinenbulletin
Curdin war bereits als Kind mit seinem Vater in den Bergen unterwegs. Er ist Bergführer und hat ihm alles über Schnee, Eis und die Berge mit auf den Weg gegeben. Curdin erstellt während eines Winters acht ausführliche Schneeprofile für das SLF (Schweizerisches Institut für Lawinen Forschung). Curdin misst dafür täglich Temperatur, die Höhe, den Widerstand und die Dichte des Schnees in einem extra dafür abgesteckten Feld. Diese Werte sind wichtig für die Beurteilung des Schnees und für die Übermittlung ans SLF in Davos, wo seit den 1950er-Jahren gemessen wird. In Scuol liegt eine von 50 Stellen im Alpenraum.
Das Telefon klingelt. Ein Notruf kommt rein. Lukas ist in nur wenigen Minuten bei der Unfallstelle und sichert sie. Eine Snowboarderin kann nach einem Sturz den Arm nicht mehr bewegen. Sie hat grosse Schmerzen. Lukas entscheidet nach dem Bodycheck, dass es die Rega für diesen Fall nicht braucht. Er informiert den Krankentransport, der an der Talstation auf die Verunfallte wartet. Gekonnt und mit grossem Körpereinsatz bringt Lukas die Verletzte mit dem Rettungsschlitten zur Station Motta Naluns, wo sie samt Schlitten in die Gondel verladen wird.
Etwa ein Fünftel der Unfälle wird mit der Rega abtransportiert. Jeder Unfall wird genauestens dokumentiert. Ein Blick in die Akten hilft im Zweifelsfall bei ungeklärten Versicherungsfragen oder auch für die Statistik. Die meisten Unfälle passieren bei schlechter Sicht, um die Mittagszeit oder gegen Abend, wenn die Leute müde sind.
Der Einblick in die vielseitige Arbeit der Pistenrettung war sehr beeindruckend. In Zukunft werden wir unsere Abfahrten mit dem Wissen um die ganze Arbeit, die hinter den Kulissen für unsere Sicherheit sorgt, viel bewusster geniessen.
Zur Info: An den Stangen am Pistenrand findet sich die Telefonnummer der Pistenrettung.
Fotos: © Andi Speck
Autorin.
Claudia Jucker
Claudia Jucker liebt das Abenteuer und die Natur und lebt mit ihrer Familie in Zürich. Wenn sie nicht gerade mit ihrem VW-Bus ins Blaue fährt, im Wald auf Spurensuche ist oder auf Städtetrips die neusten Trends scoutet, schreibt und gestaltet sie als freie Reisejournalistin für Magazine und Onlineformate.