Wenn Skigebiete sich neu erfinden.
Vergessene Pisten
Von Felix Gross
Ein friedlicher, kalter Wintermorgen über Davos. Immer mal wieder lugt die Sonne hinter den dichten Wolken hervor und taucht die Umgebung in ein mystisches Licht. Der frisch gefallene Morgenschnee verwandelt die sanften Hänge in eine stille Märchenlandschaft.
Diese wunderbare Ruhe unter den Gipfeln wird unterbrochen vom leisen Knirschen der Schneeschuhe. Es geht mal bergauf, mal bergab, aber stets mit Blick auf tief verschneite Berge und unberührte Täler. Gut eine Stunde nach Aufbruch ist das Ziel erreicht: der Aussichtspunkt Hüreli mit seinem fantastischen Panorama vom fast 1000 Meter tiefer liegenden Davos, über den Wolfgangpass bis nach Klosters und weiter ins Prättigau.
Eine Entlastung für das Skigebiet Parsenn
Der Ausgangspunkt der Wanderung ist nur noch schemenhaft erkennbar: Die Bergstation der Luftseilbahn, unterhalb eines schroffen Berggrats auf knapp 2500 Metern über dem Meer gelegen. Die «Pischa» ist eine Sonnenterrasse an der Westflanke des Pischahorns, wenige Kilometer ausserhalb des Ortszentrums von Davos.
1967 entstand hier, an der Strasse zum Flüelapass, ein Skigebiet mit einer Luftseilbahn und zwei Skiliften. Es sollte in erster Linie das renommierte Skigebiet Parsenn im Dorfzentrum entlasten, denn dort konnte die Standseilbahn aus den 1930er Jahren die in Scharen anströmenden Wintersportler nicht mehr bewältigen. Warteschlangen quer durch das Dorf seien an schönen Wintertagen keine Seltenheit gewesen, berichtet Markus Good, ehemaliger Verwaltungsrat der Sportbahnen Pischa.
Und tatsächlich ging der Plan auf: Die sonnigen Hänge des neuen Skigebietes erfreuten sich während Jahrzehnten grosser Beliebtheit. Tausende Gäste tummelten sich an schönen Tagen auf den Pisten im Flüelatal, sodass das Angebot bis in die 1990er Jahre hinein stetig ausgebaut wurde.
Ursprüngliche Natur statt breite Pisten
Der Kontrast dazu könnte heute kaum grösser sein. Von dem typischen Rummel eines Skigebiets ist im Flüelatal nichts mehr zu spüren. Längst sind die Skilifte verschwunden. Statt breit gewalzter Pistenautobahnen und Beschallung aus der Berggastronomie dominiert wieder die wilde, ursprüngliche Natur. Lediglich das weitläufige Parkareal an der Passstrasse und die verwinkelte Seilbahnstation mit ihrer zeitlosen Sichtbetonbauweise lassen erahnen, welchen Besucheransturm das Tal einst verzeichnete.
Der massive Ausbau der Infrastruktur und der Förderkapazität in den anderen Davoser Skigebieten sorgt nach der Jahrtausendwende dafür, dass die Pischa als Entlastung nicht mehr benötigt wird. Doch eine Schliessung des bei Einheimischen wie Touristen beliebten Areals kommt nicht in Frage. Und so erfindet sich das Skigebiet neu – mit einem alternativen Wintersportangebot. Seither ist die Pischa ein Eldorado für Schneeschuhtouren, Winterwandern und Schlitteln. Im Vordergrund steht der bewusstere Genuss der Natur abseits der Massen und abseits jeglicher Hektik.
Winterwandern, Schlitteln, Fatbiken und Freeriden
Wem all das nicht spektakulär genug ist, der stürzt sich waghalsig auf Airboards oder Fatbikes – einer Spezialform des Mountainbikes für Fahrten im Schnee – die Hänge hinab. Und auch die ursprüngliche Skifahrer-Klientel ist an der Pischa nicht ausgestorben. Doch wie an den Wintersportgeräten unschwer erkennbar ist, sind es keine Pistenskifahrer, die hier unterwegs sind. Noch breiter als ihre zwei Bretter ist nämlich nur das Grinsen der Freerider, wenn sie mit funkelnden Augen aus der Kabine der Luftseilbahn schauen. Gedanklich ziehen sie bereits die nächsten Spuren durch den unberührten Pulverschnee.
Am späten Nachmittag erreichen die letzten wärmenden Sonnenstrahlen das Bergstationsgebäude der Seilbahn. Mit der letzten Kabine sind auch die letzten Pulverschneefreunde längst zurück ins Tal verschwunden, während sich oben der Himmel verdunkelt und es wieder zu schneien beginnt. Im Berghotel Pischa steht eine ruhige Nacht bevor, ehe am nächsten Tag der Besuch eines weiteren alternativen Skigebiets ansteht.
Mit der Standseilbahn auf die Schatzalp
Schon die Anreise ist sensationell: Versteckt in einer kleinen Seitengasse mitten in Davos Platz liegt die Talstation der Standseilbahn zur Schatzalp. Sie ist der einzige Zugang zu der Anhöhe auf der Westseite des Landwassertals und beförderte schon 1899 die ersten Fahrgäste, als Davos noch einer der bekanntesten Luftkurorte der Welt war. Denn ein halbes Jahrhundert zuvor hatte der Arzt Alexander Spengler zusammen mit dem Kaufmann Willem Jan Holsboer entdeckt, dass die Davoser Höhenluft Linderung brachte bei der damals als unheilbar geltenden Lungenkrankheit Tuberkulose.
So entstanden in den folgenden Jahrzehnten unzählige Sanatorien, deren luxuriösestes auf der Schatzalp gebaut wurde und das später Thomas Mann für seinen Roman inspirierte. Die Blüte endet jäh, als die Medizin ab den 1950er Jahren eine medikamentöse Heilung der Tuberkulose findet. So müssen sich die Sanatorien neu positionieren und werden mehr und mehr als Hotels genutzt.
Auch die Schatzalp empfängt Hotelgäste. Doch ihren nostalgischen Charme aus der Zeit des Jugendstils hat sie bis heute nicht verloren: Die pompöse Fassade, der ganz in Weiss gehaltene Speisesaal, das rustikale Interieur der Zimmer oder die originalgetreuen Liegen auf den wabenförmigen Balkonen. All das vermittelt einen lebhaften Eindruck, wie sich das Leben hier oben vor über hundert Jahren angefühlt haben muss. Auch heute noch pflegt das monumentale Bauwerk damit das eigentliche Erbe von Davos. Denn anders als in vielen anderen Alpendestinationen waren es nicht Touristen, die zum Aufschwung führten, sondern die Heilsuchenden auf dem Weg an frische Luft und Sonne.
Unterwegs im Tempo früherer Jahre
Der Wintersport entwickelte sich dann als Angebot für die Kurgäste und ihre Begleitungen, welche schon bald in den Genuss von Eislauf, Hockey und Skischulen kamen. So entstand auch auf der Schatzalp 1937 ein Skigebiet, das heute noch an seine Gründerzeit erinnert. Denn der heutige Zustand des Skigebiets unterscheidet sich kaum von damals.
Nach dem Ende der Kurhausblüte musste es um Gäste kämpfen, ging eine zwischenzeitliche Liaison mit dem nahegelegenen Skigebiet Parsenn ein und stand danach mehrere Jahre still. Doch seit Ende 2009 wird auf der Schatzalp wieder Ski gefahren – im Tempo der frühen Jahre. «Slow Mountain» nennt sich das Konzept, das eine bewusste Alternative zum Trubel der umliegenden Skigebiete bieten will.
Sichtlich stolz ist der Initiator und Inhaber des Retro-Skibergs, Pius App, auf die Vorreiterrolle der Schatzalp. Anfangs von vielen belächelt, hätten sich später auch andere Skigebiete an vereinzelten sogenannten Langsampisten versucht – allerdings mit überschaubarem Erfolg. Es brauche ein stimmiges und authentisches Gesamtkonzept, meint App. Und das bietet die Schatzalp ohne jeden Zweifel.
Willkommen im Kosmos der Schatzalp
Gemächlich rattern die Rollen der Sesselbahn und des Skilifts, während auf den Pisten die Wintersportler genussvoll hin und her schwingen. Es sind hauptsächlich Gäste des Hotels, für welche die Nutzung des Skigebiets gratis ist. Nur selten tauchen «Fremde» in den Kosmos der Schatzalp ein, was das Skifahren an diesem Ort ganz speziell macht. Hier findet man keine künstliche Beschneiung, keine Hochleistungsbahnen und kein Gebolze auf der Piste. Vielmehr bekommt man den Skiliftbügel in die Hand gelegt, schaut hinüber zur Steinbockkolonie am nahegelegenen Schiahorn und freut sich über die begeisterte Begrüssung durch den Hund des Liftwarts an der Bergstation. Auf dem Zauberberg zählen nicht die gefahrenen Höhenmeter, sondern das Erlebnis.
Autor.
Felix Gross
Reisen und Entdecken sind Felix grosse Leidenschaften. So oft wie möglich verbringt er Zeit in der Natur und in den Bergen, sei es zum Fotografieren, Skifahren, Wandern oder Seilbahnfahren.