Wo man die Augen wandern lassen kann.
Bauern, Bahn und Bergbadi: Bergün
Von Jano Felice Pajarola
In meinen Kindheitserinnerungen ist Bergün ein Ort des Kommens und des Gehens. Des Ankommens, oben am Bahnhof, bevor wir unten im Dorf, in der Bäckerei am Platz, Brötchen kauften, um wieder wegzugehen, aufzubrechen in die Bergwelt ringsherum. Ela-Hütte und Orgelpass. Chants und Lais da Ravais-ch. Bahnerlebnisweg und Lai da Palpuogna. Darlux. Dabei wäre es auch schön gewesen, einfach zu bleiben. Zu sein. Zu geniessen. In der blauen Bergbadi am oberen Dorfrand zum Beispiel. Oder im kühlen Schatten der mächtigen, stolzen Häuser an der Veja Megstra, am Chant da Farrer, wo die Autos, Töffs und Velos auf Pflastersteinen die Fahrt in Richtung Albulapass unter die Räder nehmen. Ausser winters, wenn der Pass geschlossen ist. Aber jetzt ist Sommer, die Kindertage liegen vier Jahrzehnte zurück, und ich bin hier, um einen Tag lang zu bleiben. Fredo wartet schon, Fredo Falett, der Dorfführer, 64, er will mir zeigen, was Bergün ausmacht.
Er ist hier geboren und aufgewachsen, hat 40 Jahre lang mit seiner Frau Migga einen Hof im Dorf geführt, vor Kurzem hat er ihn nun an eine junge Familie verpachtet. Fredo nimmt mich mit auf einen Spaziergang, erzählt. Vom harmonischen Dorfbild Bergüns, in dem sich viele Häuser ähneln, in ihren Ausmassen, ihren Giebeldächern, ihren Sgraffiti, Engadinerbauten mit Charme und dazwischen kaum Fremdkörper, weil die Baulücken dafür fehlen. «Und es hat relativ breite Strassen für ein Dorf. Man kann die Augen wandern lassen.»
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Ich habe als Bub schon gerne den alten Leuten im Dorf zugehört.
Fredo Falett Dorfführer
Die Augen wandern lassen: das tut fast automatisch, wer mit Fredo in Bergün unterwegs ist. «Wer genau schaut, sieht auch die wertvollen Details. Die geschnitzten Türen. Die geschmiedeten Türklopfer. Die Malereien an den Häusern», meint er. Ein Reichtum, der seinen Ursprung in der Geschichte hat. Zum Beispiel in den Einkünften der ausgewanderten Zuckerbäcker, die einst in halb Europa erfolgreich ihre Geschäfte betrieben. In den Erträgen aus dem florierenden Passverkehr, aus dem Veltlin, den Bündner Untertanenlanden, aus dem Söldnerwesen. «Die meisten grossen Häuser stammen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Damals ging es Graubünden gut. 170 Jahre lang gab es keine Querelen.» Sein Wissen holt Fredo aus Geschichtsbüchern, denn Romane mag er nicht lesen, das gibt er freimütig zu. «Und ich habe als Bub schon gerne den alten Leuten im Dorf zugehört.»
Wir sind am Platz angekommen, im Schatten des Bergüner Wahrzeichens sozusagen: la Tuor, der Römerturm. Ich verabschiede mich von Fredo und klingle bei Susanne an der Chesa Plaz. Susanne Rösli, 58, ist eine Zugezogene, vor 30 Jahren ist sie mit ihrem Mann Thomas aus Meilen am Zürichsee ins Albulatal gekommen, die beiden Söhne sind hier zur Schule gegangen. Sie hat schon im Bergüner Verkehrsbüro gearbeitet, in der Bergüner Bibliothek, sie hat übergangsmässig ein Bergüner Hotel betrieben, nachdem sie zu dessen Rettung einen Investor vermitteln konnte, und sie hat mit viel Erfolg ein Bergüner Lädali geführt. Das tut sie immer noch, aber an einem neuen Ort, seit bald vier Jahren findet man die «Buteca» in der Chesa Plaz der Röslis. Vor allem Feriengäste verweilen hier gern, stöbern im liebevoll zusammengestellten Angebot an Büchern, regionalem Kunsthandwerk, gediegenen Geschenkartikeln. Und an selbstgemachtem Schmuck aus Arvenholz und Steinen aus der Gegend, Materialien, die Susanne zu eigenen Kreationen verarbeitet, «das ist meine Abendbeschäftigung», sagt sie lachend.
Die Lebensqualität ist einfach toll.
Susanne Rösli Besitzerin der «Buteca»
Nein, sie habe es nie bereut, nach Bergün gezogen zu sein. «Die Lebensqualität ist einfach toll. Die Landschaft ist wunderbar, und man ist sofort draussen in der Natur.» Auch ihre beiden Söhne Lukas und Tobias, inzwischen in Flims-Laax im Filmbereich tätig, seien Bergün-Fans geblieben. «Sie sagen heute noch: Wir hatten eine herrliche Kindheit hier», erzählt Susanne.
Von der Chesa Plaz lenke ich meine Schritte hinauf zu jener Herberge, die als Leitbetrieb für das Dorf gilt, es ist das Hotel mit den meisten Übernachtungen, den meisten Betten, während der Saison stehen über 30 Leute auf der Lohnliste. Das historische «Kurhaus» ist ein Bau aus der Zeit der Bündner Grandhotels, es sollte Bergün als Akklimatisations- und Luftkurort für den Tourismus attraktiv machen, als 1903 die Bahnlinie in Betrieb ging. Nach einer wechselhaften Geschichte ist es heute – wieder – eine Perle. Christof sorgt mit seiner Frau Maya dafür, dass diese Perle ihren Glanz behält: der Berner Christof Steiner, 43, seit bald elf Jahren Direktor im «Kurhaus».
Nein, bereut hätten auch sie es nie, nach Bergün gezogen zu sein, «wir hatten aber auch keine Zeit dafür», meint er schmunzelnd. Den Ort habe er vorher kaum gekannt, fast exotisch sei dieses Bergün für ihn gewesen. «Schon der Weg hierher ist dramatisch. Zuerst kommt der Bergünerstein, dieser Fels mit seiner rohen Kraft. Und dann triffst du auf die offene Ebene mit dem hübschen Dorf, das so authentisch und natürlich ist.» Und die Menschen? «Die Menschen hier haben uns sehr offen aufgenommen. Man sagt ja oft, Bergler seien etwas verschlossen. Aber in Bergün haben wir das nie so erlebt.» Im Gegenteil, das Dorf habe eine gesunde Einstellung zum Tourismus, betreibe ihn nicht marktschreierisch, findet Christof. «Man schaut zueinander, man spürt keinen Futterneid.» Das frische Blut der Zugezogenen tue den Dörfern zudem gut. «Aber umgekehrt muss man auch die DNA eines solchen Orts respektieren.»
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Ein Bergüner Ei ist einfach besser.
Christof Steiner Direktor im «Kurhaus».
Christof und sein Küchenchef Markus Frank tun das, auch auf der Speisekarte. Zum Beispiel mit den schon fast legendären Bergüner Tapas, dem köstlichen «Kurhaus»-Vorspeisenklassiker mit Produkten aus lokaler Produktion. Überhaupt: Bauernbirnbrot und Alpkäse kommen vom Hof Nicolay, Kalbfleisch und Eier von Hof Plaschair, Rindfleisch, Wurst und Arvengeist von Bioberguen.ch, alles Betriebe im Dorf. «Ein Bergüner Ei ist einfach besser», meint Christof, «das merkt man spätestens beim Eiertütschen …» Er lacht. Und mich nimmt wunder: Wer sind denn diese Bauern, die als so innovativ und experimentierfreudig gelten und für ihre Hofläden immer wieder Neues kreieren?
Mehr davon erzählen soll mir eine dieser Landwirtinnen selbst, Franziska von Bioberguen.ch. Franziska Amstad, 35, stammt eigentlich aus Arth-Goldau, aber die Liebe zu Riet Schmidt hat sie ins Albulatal geführt und damit zu einem Bauernbetrieb, den die Familie inzwischen in der fünften Generation bewirtschaftet. Franziska und Riet haben gerade den einstigen Heustall neben ihrem Wohnhaus an der Veja Megstra umgebaut. Im Untergeschoss: ein 24-Stunden-Selbstbedienungsladen als Ergänzung zum bekannten roten Bahnwägeli, das die Schmidts für die Direktvermarktung mit der Bauernfamilie Gregori teilen. Daneben eine bediente Käsetheke. Produktionsräume. Ein beleuchteter Käsekeller. Ein Eventraum. Und in den oberen Geschossen: vier topmoderne Ferienwohnungen, die seit Anfang Jahr in Vermietung sind. «Wir fanden, es macht ja nicht Sinn, erst mit 50 zu investieren», sagt Franziska. «Wenn, dann jetzt.»
Bergün ist kein verschlafenes Bergdorf.
Franziska Amstad Landwirtin
Sie wussten vom Bahnwagen-Lädali her: Das mit der Direktvermarktung funktioniert, da liegt sogar noch mehr drin. Und auch eine Ferienwohnung hatten sie im Dachgeschoss des Wohnhauses schon. «Auf dieses Pferd wollten wir ebenfalls noch stärker setzen.» Der Start ist ihnen geglückt, die Auslastung ist gut, Ferien auf dem Bergüner Bauernhof sind beliebt. «Und es ist doch toll, dort zu leben, wo andere Ferien machen», findet Franziska. Sie, Riet und die beiden Töchter Romina und Elin geniessen auch den Wechsel der Saisonzeiten, die ruhigen und die umtriebigen Monate. «Bergün ist kein verschlafenes Bergdorf, in dem alles das ganze Jahr über gleich ist.»
Mein Tag in Bergün neigt sich langsam dem Ende zu, besuchen möchte ich jetzt noch Corina, eine Frau, die es einst aus dem Bergdorf weggezogen hat, mit 16, und die erst 2011 wieder zurückgekehrt ist. Corina Puorger, 70, leitet gemeinsam mit Reto Barblan das Bergüner Ortsmuseum.
Politisch hat Bergün mit der Nachbargemeinde Filisur fusioniert, eine neue Identität entsteht, und die Ausstellung soll das Verbindende zwischen den Neuvermählten zeigen. Was aber Bergün ausmacht, weiss Corina ganz genau, auch wenn – oder gerade weil – sie viel gereist ist, beruflich wie privat, sie hat im Ausland gelebt, in den USA, in Italien, England, Mexiko. Sie hat die Berufe gewechselt, war Reisebüro-Angestellte, Skilehrerin, Erwachsenenbildnerin, Theaterpädagogin, mit 67 liess sie sich noch zur Bibliothekarin ausbilden. «Es hat mir in vielen Ländern gefallen. Ich habe mir damals auch überlegt, ob ich auswandern soll. Aber auf die Pensionierung hin wollte ich wieder zurück.» Zurück zur Familie, zurück in die Heimat. Warum? Das merke sie erst jetzt. «Es ist die Zeit, die man hat. Alles läuft viel langsamer. Ich rede gerne mit den Leuten und schaue, wie es ihnen geht. Dafür habe ich hier Zeit, und das ist ein Geschenk.»
Wir stellen nicht etwas dar, was wir nicht sind.
Corina Puorger Co-Leiterin des Bergüner Ortsmuseums
Auch das Ungeschminkte der Menschen im Dorf gefalle ihr. «Wir stellen nicht etwas dar, was wir nicht sind.» Und: Für sie ist Bergün ein Vertrauensort. Einerseits für alle, «um die Kinder muss man keine Angst haben, wenn sie draussen spielen», andererseits für sie selbst, «ich konnte früher reisen, weil ich hier ein sicheres Zuhause hatte.»
Corina schaut aus der reich verzierten Tür des Museums hinaus auf den gepflästerten Chant da Farrer, wo man die Augen so gut wandern lassen kann, und verabschiedet sich auf Bargunseñer, das alte Bergünerromanisch, sie hat es nicht verlernt, auch in der Fremde nicht. Ja, Bergün ist ein Ort, an dem man ankommen kann, in der Weite nach dem engen Bergünerstein. Man kann auch wieder weggehen, sicher. Vor allem aber lässt sich hier gut bleiben.
Tipps für Bergün
Fredo Falett: «Ich zeige gern das Haus Jenatsch an der Giassa Strezza im Unterdorf. Es ist fast unverändert erhalten geblieben und besitzt die wertvollste Fassade Bergüns, datiert 1554.»
Susanne Rösli: «Einer meiner Lieblingsorte befindet sich beim Crap Sot igls Munts, etwa 45 Minuten vom Dorf, mit einem wunderschönen Blick auf Bergün.»
Christof Steiner: «Ich empfehle den Spaziergang von der Brücke beim Schiessstand Isla der Albula entlang bis ins Dorf – zu jeder Jahreszeit ein Genuss.»
Franziska Amstad: «Badis sind ja typischerweise laut und voll, jedenfalls im ‘Unterland’. In der Bergbadi Bergün hat es aber immer viel Platz, es ist herrlich erfrischend, und das imposante Bergpanorama tut sein Übriges.»
Corina Puorger: «Ich gehe gerne zum Crap Fess im Wald von Crestota. Dazu gibt es die bekannte Bergüner Sage von den Zwergen und dem gespaltenen Stein.»
Autor.
Jano Felice Pajarola
Jano Felice Pajarola ist Redaktor, er lebt mit seiner Familie in Cazis GR.