Eine neue Liebe gefunden.
Poschiavo und die Geschenke der Peripherie
Von Annalisa De Vecchi (Text) und Selena Raselli (Fotos)
«Aus Poschiavo.» Auch wenn man oft einige geografische Erklärungen geben muss («Zuerst ins Engadin, dann über den Berninapass und nach kurzer Fahrzeit bist du am Ziel»), antworte ich immer mit Stolz, woher ich komme. In Poschiavo bin ich aufgewachsen, bevor ich mit 16 Jahren fürs Studium wegzog. Auch heute noch habe ich den Reisekoffer immer dabei; fast jedes Wochenende fahre ich dorthin zurück. Andere Menschen teils von weit her haben ihren Koffer in Poschiavo abgestellt. Weshalb? Ein Erklärungsversuch.
Una decisione di pancia
Serena Bonetti Ärztin
Serena Bonetti lebt seit 30 Jahren in Poschiavo. Dies ist beinahe die Hälfte ihres Lebens. Sie ist eine berühmte Persönlichkeit im Dorf. Jahrzehntelang war sie Hausärztin, gemeinsam mit ihrem Ehemann Emanuele. Er ist der eigentliche Grund, weshalb sie nach Poschiavo gezogen ist. «Una decisione di pancia, non di testa.» Serena hat auf ihr Bauchgefühl gehört und nicht auf die Vernunft. Am Anfang hatte die 63-jährige Tessinerin Respekt vor diesem kleinen Bergdorf mit rund 1500 Seelen zwischen dem Berninapass und der Grenze zu Italien. Überraschenderweise hat ihr Poschiavo in all den Jahren aber viel gegeben. «Ich konnte Beruf und Familienleben bestens vereinbaren. Dabei konnte ich nicht nur Allgemeinmedizin, sondern auch Pädiatrie und Gynäkologie praktizieren. Angebote, die im Tal nicht vorhanden waren. So habe ich Frauen und Mütter kennengelernt und mich schnell integriert.»
«Il regalo della periferia» – das Geschenk der Peripherie. So beschreibt die ehemalige Hausärztin mit einer Leidenschaft für Kultur Poschiavo. Die Kultur ist ein Bereich, der im Dorf stetig in Bewegung ist. «Hier gibt es kein Kino mehr und keinen Kultursaal. Nichtdestotrotz gibt es eine Vielzahl von kulturellen Angeboten», erzählt sie mit Stolz und Überzeugung. Und macht ein Beispiel: «Giardini incantati ist eine Reihe von Sommerkonzerten unterschiedlicher Musikrichtungen, die in den Gärten des Dorfkerns stattfinden. Privatleute öffnen die Tore ihrer Gärten für die Kultur.» Touristen und Einheimische sitzen so nebeneinander.
Da dachte ich: Wow! Eccolo!
Andrea Rera Gastgeber
Dass Einheimische und Touristen nebeneinandersitzen, geschieht oft auch zwischen den Tischen des Restaurants Albrici, das von Andrea Rera geführt wird. Der 32-jährige Managing Director ist in Sizilien aufgewachsen und hat seine Hotellerieausbildung in Umbrien absolviert. Vor vier Jahren ist er per Zufall in Poschiavo gelandet. «Ich wusste nicht, wo das Restaurant lag. Ich bin den steingepflasterten Strassen gefolgt und unbewusst habe ich das Hotel gefunden und gedacht: Wow! Eccolo!» Die Faszination für das 339-jährige Gebäude sei sofort gross gewesen. «Ich verstehe nicht viel von Architektur», gibt Andrea zu, «die vielfältige Geometrie dieser historischen Häuser gefällt mir aber sehr. Ich denke häufig an die harte Arbeit, die damals geleistet wurde, um solch imposante Gebäude zu bauen.»
Die Kulinarik ist Andreas Leidenschaft. In der Speisekarte hat er ein Stück seiner Heimat integriert. «Wir bieten Thunfisch und Goldbrasse an, Spezialitäten mit einem mediterranen Geschmack.» Das Menü zeichnet sich auch durch einheimische Rezepte wie Capunet oder Taiadin aus. Das «Albrici» ist eines von mehreren Restaurants im Tal, welches die Charta «100% Valposchiavo» unterschrieben haben. Damit verpflichten sich die Gasthäuser, einige Gerichte ausschliesslich mit einheimischen Produkten anzubieten. So schmeckt man die Tradition direkt auf dem Teller.
Ein unbeschreibliches Gefühl gespürt.
Renata Sekaninová Keramikkünstlerin
Die Teller, die im Piccolo Atelier ausgestellt sind, sind hingegen noch leer. Sie sind bunt, mit Streifen oder Punkten dekoriert. Schöpferin dieser kleinen Kunststücke ist Renata Sekaninová. Sie ist in Olomouc in Tschechien aufgewachsen. Nach dem Studium für Innendesign und Bühnengestaltung hat sie ihren Rucksack gepackt und ist in die Schweiz gereist. Als sie in Samedan in einer Kinderkrippe arbeitete, lernte sie ihren Freund und künftigen Ehemann Francesco kennen. Auch in ihrem Fall war die Folge davon: Sie zog nach Poschiavo. Das Dorf war der 31-jährigen Künstlerin bereits bekannt. «Drei Jahre zuvor war ich mit meiner Mutter hier. Damals habe ich ein unbeschreibliches Gefühl gespürt – als ob ich das Dorf bereits seit Jahren kannte.»
Dass sie gerade in Poschiavo ihren Traum verwirklichen würde, hätte sie aber nie gedacht. Den Traum, ein eigenes Atelier zu eröffnen, wo sie sowohl ihre Teller und ihre Aquarellgemälde verkauft als auch Kurse für Kinder und Erwachsene anbietet. «Die Leute im Dorf kennen mich als ‹la Renata della ceramica› – ‹die Renata der Keramik›», sagt sie mit einem Lächeln und in einem perfekten Italienisch. «Ich habe die Sprache ganz allein gelernt und in Kursen mit Kindern. Dort hatte ich keine Angst, Fehler zu machen.»
Eine zweite Sprache ist wie ein zweites Zuhause.
Will Logie Umweltingenieur
«Wenn du eine zweite Sprache lernst, lernst du ein zweites Zuhause kennen oder etwas Ähnliches. So lautet ein Spruch», meint Will Logie. Er ist mehr als 16‘400 Kilometer von Poschiavo entfernt aufgewachsen, in Dungog, Australien. Auch wenn er oft als Backpacker unterwegs war und viele Städte und Länder besucht hat, ist er im Herzen immer ein «Country Boy» geblieben. «Als ich nach Poschiavo kam, bin ich zu dieser ländlichen Mentalität zurückgekehrt, die ich in meinem Leben immer gesucht und geschätzt habe», erzählt Will. Als er während seines Studiums und des späteren Arbeitsaufenthalts in der Schweiz einer Gruppe von «Pus’ciavin in Bulgia» begegnet – Menschen aus Poschiavo, die ausserhalb des Tals leben –, lernt er das Bergdorf und seine künftige Frau Selina kennen. Seit drei Jahren leben sie zusammen mit ihren drei Kindern auf 1014 Metern über dem Meer. Hier verfasst der Umweltingenieur seine Doktorarbeit über Solaranlagen.
Und was gefällt einem Australier an Poschiavo? «Der öffentliche Verkehr. Das ganze Jahr, tagsüber, jede Stunde gibt es einen Zug. Es ist ein wertvolles Angebot für ein kleines, peripheres Tal. Es sagt auch viel über den Charakter der Einheimischen aus, die eine Bahnlinie über steile Hänge hinab gebaut haben.»
Ob einheimisch erst seit ein paar Jahren, ein halbes oder schon ein ganzes Leben lang – es erfüllt einen mit Dank, die Valposchiavo sein Zuhause nennen zu dürfen. Und im gemeinsamen Gespräch öffnet sich der Blick neu auf doch so gut Vertrautes. Wer weiss, wer noch dem Ruf seines Herzens hierher folgen wird?
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