Das Dorf der Zurückgekehrten.

Kastanien, Kameras und Kindersegen: Soglio

Der Ort ist eine der Perlen der Bregaglia. 2015 wird Soglio mit dem Wakker-Preis gekrönt und zum schönsten Dorf der Schweiz gekürt; im Rennen um das schönste Bergdorf Graubündens erreicht es fünf Jahre später den dritten Platz. Doch bedeutet Attraktivität auch Vitalität? Vor 20 Jahren prophezeiten Pessimisten dem Dorf das baldige Aussterben. Wer Soglio heute besucht, bekommt einen ganz anderen Eindruck.

Von Jano Felice Pajarola

Die Kamera: In Soglio ist sie das Zeichen des Gasts. Während die Einheimischen das tun, was sie jeden Tag tun, nämlich ihre Arbeit verrichten, zücken jene, die zu Besuch hier sind, wandernd vielleicht auf dem beliebten Sentiero Panoramico, entzückt den Fotoapparat und nehmen sie vor die Linse: die verwinkelten Gassen, die pittoresken Häuser und Ställe, die stolzen Palazzi. Ich kann sie verstehen. Soglio ist schön, preisgekrönt schön. Und diese Schönheit will festgehalten werden. Es ist einer der letzten Tage der Herbstsaison, in den Hainen unterhalb des Dorfs schwelen die Dörrfeuer für die Kastanien und lassen ihre Rauchsäulen in den Himmel steigen, oben im Villaggio kehrt nach morgendlicher Ruhe allmählich die touristische Betriebsamkeit in die Via Sott Paré, die Via Plazza, die Gassa d’Uspadera und all die anderen Wege und Plätze im Dorfkern zurück. Auch in die Gassa d’la Streccia, wo ich mit zwei jungen Frauen aus Soglio abgemacht habe, um von ihnen zu erfahren, wie das Leben in diesem Postkartendorf so ist. Denn vor 20 Jahren noch gab es solche, die sagten: In zehn Jahren wird Soglio nicht mehr sein. Wegen Überalterung, Abwanderung. Aller Schönheit zum Trotz.

Elena heisst Giacometti, Elisa heisst Nunzi, doch beide sind sie ursprünglich Giovanolis aus Soglio, sie sind Schwestern, 29 und 30 Jahre alt. Beide haben sie inzwischen selbst eine Familie gegründet, Elena im nahen Vicosoprano, Elisa in Soglio. An ihre eigene Kindheit denken sie gerne zurück. «Wir spielten immer draussen im Wald, im Dorf, wir bauten Hütten, Iglus, machten Zirkusvorführungen. Alle zusammen, ältere, jüngere, Mädchen, Jungen, das spielte keine Rolle», erinnert sich Elisa. Sie gingen zusammen in die Gesamtschule, damals gab es ja noch eine Schule im Ort. «Alle kannten sich, man wusste alles voneinander. Aber wenn man dann älter wird, kann so ein kleines Dorf auch einengend sein.» Und für die Ausbildung führt der Weg sowieso fast zwangsläufig in die Fremde, im Bergell gibt es nur wenige Lehrstellen.

Elisa wurde Fachfrau Betreuung und Sozialpädagogin, Elena Informations- und Dokumentationsassistentin. «Ich hatte dann aber genug von der Stadt», sagt Elisa, sie wollte zurück in die Berge, «in die Freiheit hier», zur Natur, zu den Tieren, neben ihrem Beruf hilft sie heute den Eltern auf deren Landwirtschaftsbetrieb, mit den Geissen, «ohne Bauern wäre Soglio nicht mehr Soglio», findet sie.

Soglio hat sich verändert und sollte das auch weiterhin tun.

Elena Giacometti

Elena hat sich für den Wohnort ihres Mannes entschieden, aber auch sie hat eine enge Beziehung zu Soglio, es ist ein Häuschen mit Stall an der Gassa d’la Streccia, gekauft vom Grossonkel. Ein Jahrhundert hatte niemand mehr darin gewohnt, «mit meinem Mann habe ich es dann mit viel Aufwand geräumt und etwa so eingerichtet, wie man früher hier lebte.» La Streccia, so nannten sie das Häuschen, zeigt in Keller, Küche, Stube und Schlafkammer, wie einfach man in solchen Wänden einst hauste. Seit drei Jahren werden nun gemeinsam mit Wanderleiter Werner Anliker Führungen angeboten, Ausflüge in die Geschichte von Soglio, und eine alte Schmiede auf der anderen Strassenseite dient als Ausstellungsraum für historische Fotografien aus dem Dorf. Elena geht es aber nicht um das reine Bewahren des Vergangenen. «Man denkt immer, die Zeit sei hier stillgestanden. Aber auf den Fotos sieht man, dass das gar nicht stimmt», sagt sie. «Soglio hat sich verändert und sollte das auch weiterhin tun, ohne seine Vergangenheit und seine Identität zu verlieren.»

Ich gehe weiter, zum Abschied winkt mir Daniele nach, der zweijährige Sohn von Elisa, von dem seine Mama hofft, dass er später auch einmal weggeht, seinen Horizont erweitert, dass er aber die Möglichkeit hat, zurückzukehren, wenn er will.

Zehn bis 15 Kinder im Vorschul- und Schulalter hat Soglio im Moment, fast könnte man die Schule wieder öffnen, das Schulhaus steht noch, ist aber längst umgenutzt, und linkerhand davon, in einem gelben Haus mit der Aufschrift «Soglio», in Grossbuchstaben, findet der Gast jene Körperpflegeprodukte, für die das Dorf weit herum bekannt ist. Fast 20 Arbeitsplätze bietet das Unternehmen heute im Tal, aufgebaut haben es vor vier Jahrzehnten zwei Zugezogene, Walter Hunkeler und Martin Ermatinger. Ich treffe mich mit dessen Sohn Ivo, sozusagen ein Secondo im Dorf, er ist hier geboren und aufgewachsen, ein Jahrgänger von Elena, doch letztlich ist auch er ein Zurückgekehrter. Schreinerlehre, Berufsmatura, dann ein Studium als Wirtschaftsingenieur, alles im Unterland. Daheim in den Betrieb einzusteigen war nicht seine Absicht – bis der Vater es thematisierte. «Er wollte einst beweisen, dass man in einem abgelegenen Alpental mit einheimischen Rohstoffen nachhaltig Wertschöpfung erzielen und damit Arbeitsplätze schaffen kann», sagt Ivo. «Die Philosophie entspricht auch mir.»

Mir hat bis jetzt noch kein anderer Ort so das Gefühl gegeben, zu Hause zu sein.

Ivo Ermatinger

Und so passt es nun für ihn, wie es gekommen ist. Er betreut vor allem die Firmenkommunikation nach aussen, in zwei bis drei Jahren wird er die Geschäftsführung übernehmen. «Und es ist extrem schön, hier zu leben, viel weniger hektisch als in der Stadt. Klar, im Sommer und Herbst hat man viele Leute in den Gassen. Aber im Winter haben wir dafür auch viel Ruhe. Mir hat bis jetzt noch kein anderer Ort so das Gefühl gegeben, zu Hause zu sein.» Er sei, betont Ivo, überzeugt davon, dass es nicht so negativ aussehe für das Dorf Soglio, wie es früher vielleicht den Eindruck gemacht habe. «Dass der Reiz der Berge wirkt, merkt man seit der Coronazeit erst recht, so mancher fragt sich: Muss ich das wirklich haben, was die Stadt mir bietet? Und dass man zunehmend regionale Produkte möchte, das wird etwas Langlebiges sein. Produkte mit einer nachvollziehbaren Geschichte.»

Palazzo Salis in Soglio (© Jano Felice Pajarola)
Bottega in Soglio (© Jano Felica Pajarola)

Ideen haben, Nischen finden – das scheint auch hier ein Überlebensrezept zu sein, und vielen gelingt es. Ein selbstgemachtes Kastanienbrot aus der Bottega der Bauernfamilie Brügger, die an der Plazza eine Pension betreibt, ein Mascarplin aus der Geissenmilch von Elena und Elisas Eltern, das ist der Geschmack von Soglio, und Soglio schmeckt so gut, wie es schön ist. Nach einem raschen Kaffee an einem Tischchen vor dem geschichtsträchtigen Hotel «Palazzo Salis» ist es Zeit, zu Tosca zu gehen, Tosca Giovanoli, sie lebt mit ihrem Mann in einem Haus am unteren Dorfrand mit Blick auf die Sciora-Gruppe, diese Bergsilhouette, ohne die man sich Soglio ebensowenig vorstellen kann wie ohne Kameras und Kastanien. Die 44-Jährige organisiert für Bregaglia Engadin Turismo alljährlich im Oktober das Kastanienfestival, unter anderem, sie mag diese Arbeit, sie kann dabei neue Ideen entwickeln, das entspricht ihr. «Ich komme aus Promontogno, war aber schon als Kind oft in Soglio, mein Vater ist hier aufgewachsen», erzählt Tosca. «Und hier habe ich meinen Mann Federico kennengelernt.»

Tosca Giovanoli (Foto: © Jano Felice Pajarola)
Soglio
Soglio ist auf einem guten Weg.

Tosca Giovanoli

Fort aus dem Tal war aber auch sie, die Lehre bei der Post führte sie nach Thusis, St. Moritz, Genf. «Ich glaube, ich würde mich überall wohlfühlen», sagt Tosca. «Auch in der Stadt. Aber um eine Familie zu gründen, wollte ich zurück. Es ist schon schön im Bergell.» Wobei es ab und zu, das gesteht Tosca, durchaus die Soglio-begeisterten Gäste sind, die sie an diesen Umstand erinnern. «Dann weiss man das wieder zu schätzen», sie schmunzelt. Ihre beiden Kinder sind schon aus dem Haus, Gabriele, der Sohn, macht eine Ausbildung zum Koch. Was denkt sie: Wird er später auch ein Zurückgekehrter sein? «Schwierig zu sagen. Er will jetzt die Welt sehen, wie das in seinem Metier üblich ist.» Aber sei es, wie es wolle, auch Tosca ist sich sicher: «Soglio ist auf einem guten Weg.»

Häuser in Soglio (Foto: © Jano Felice Pajarola)
Armando Ruinelli (Foto: © Jano Felice Pajarola)

Etwa 110 ständige Einwohnerinnen und Einwohner hat das Dorf im Moment, «das ist mehr als auch schon», betont Armando Ruinelli, 66. Wir sitzen in seinem Atelier an der Giümella mitten in Soglio, zentral, aber doch ein paar entscheidende Schritte abseits der Touristenpfade. Fragt man ihn, den renommierten Architekten, nach den Vorzügen des Orts, ist die Antwort klar: die erhöhte Lage auf einer Geländeterrasse mit den markanten Bergen vis-à-vis. Die prächtigen Palazzi neben den einfachen Bauernhäusern und Ställen. Der südliche, schon etwas mediterrane Charakter. «Aber das Dorf darf auch kein Theater sein, kein Schauspiel, keine falsche Romantik. Man sollte dazu stehen, dass man im Jahr 2020 lebt, und auch den Gästen gegenüber ehrlich sein.» Die Dorferneuerung ist ein wichtiges Thema in Armandos Arbeit, Orte wie Soglio müssten sich erneuern, findet er, «sonst gehen sie ein. Wer am Alten festhält, läuft Gefahr nur zu bewahren oder – noch schlimmer – im Neuen das Alte zu imitieren. Nicht alles, was alt ist, ist auch gut.» Und was nicht gut sei, solle man ersetzen durch Neues, Zeitgemässes.

Ich wünsche mir eine Biodoversität der Tätigkeiten.

Armando Ruinelli

Er selbst hat das als Architekt schon mehrfach vorgezeigt, seine Bauten sind zu einem Teil von Soglios Identität geworden. Und ja, auch er, fast überflüssig zu erwähnen, ist einer, der zurückgekehrt ist, nach der Lehre als Hochbauzeichner in Zürich wollte er daheim in Soglio darüber nachdenken, wie es weitergehen soll, doch dann kam der eine, dann der andere Auftrag, «und schliesslich hatte ich mein Architekturbüro». So lebt und arbeitet er nun seit 40 Jahren in Soglio, gerne, wie er betont, «wobei ich nicht weiss, wie es wäre, hätte ich nicht die Möglichkeit, immer wieder aus dem Tal herauszukommen.» Für die Zukunft des Dorfs wünscht er sich vor allem eines: keine Monokultur, sondern «eine gesunde Mischung unter den Menschen, die hier leben, sozusagen eine Biodiversität der Tätigkeiten.» Die Vielfalt, meint Armando, sei seine Hoffnung.

Landschaft bei Soglio (Foto: © Jano Felice Pajarola)

Ich spaziere ein letztes Mal für diesen Tag durch die Gassen, es ist Abend geworden, die Gäste sind fast alle verschwunden, mit ihnen die Kameras, aber unten in den Hainen steigen noch immer die Schwaden der Kastanienfeuer gen Himmel, und irgendwoher höre ich Kinder lachen. Nein, dass es dieses Dorf in zehn Jahren nicht mehr geben könnte – das würde heute niemand mehr sagen. Soglio lebt. 

Auch winters ein Reiseziel

In Soglio gibt es keine eigentliche Wintersaison. Von November bis Mai oder Juni ist es sehr ruhig im Bergeller Dorf, und die Einheimischen empfinden das durchaus als angenehm. «Im Winter erlebt man die authentische Seite von Soglio», findet Elena Giacometti. «Die Gäste von auswärts fehlen, dafür kommen die Einheimischen aus dem Talboden hinauf nach Soglio in die Sonne.» Dort nämlich scheint sie bei guter Witterung auch dann mehrere Stunden am Tag, wenn ihre Strahlen den Talgrund nicht mehr erreichen – ungefähr von 11.30 bis 14.30 Uhr. «Die Einheimischen», weiss Tosca Giovanoli, «gehen dann alle gleichzeitig spazieren, ein gutes Zeitfenster für Begegnungen.» Der belebte Sommer und Herbst, der ruhige Winter, das sanfte Wiedererwachen im Frühling: Diesen Rhythmus fast wie in der Natur schätzt auch Ivo Ermatinger. «In Soglio nimmt man ihn stärker wahr. Und wer im Winter hierher kommt, kommt wegen der Ruhe und der Zeit, die er dann für sich selbst hat.» Ein Geheimtipp also – und übrigens: Ein Bett findet sich in Soglio auch winters, sei es in der Pension der Familie Brügger, in einem der Hotels im Ort – «Palazzo Salis», «Stüa Granda» und «La Soglina» – oder in einer der Ferienwohnungen. Bregaglia Engadin Turismo hilft gerne weiter.

Jano Felice Pajarola

Autor.

Jano Felice Pajarola

Jano Felice Pajarola ist Redaktor, er lebt mit seiner Familie in Cazis GR.