Der Herr der Lamas.
Isidor Sepp aus Müstair
«Säged Si, isch das waar, dass d Lamas eim chönd aaspöize?» Der Bauer hört die Frage nicht zum ersten Mal. Er lächelt und erklärt dem Bub: «Du musst gut zu den Tieren sein und ihnen zeigen, dass du sie gern hast. Sie sollen wissen, dass du der Chef bist und genau weisst, was du willst. Dann wird dich sicher kein Lama anspucken!»
Zwei Familien haben sich diesmal fürs Münstertaler Schnupper-Trekking mit den Lamas angemeldet. Isidor Sepp, Biobauer und Agrotouristiker, empfängt sie auf seinem modernen Hof Pauraria Puntetta – romanisch für «Bauernhof zum Brückli». Er freut sich: «Passt doch prima: Auch unsere kleine Lamaherde besteht aus zwei Familien.» Diese da, sagt er und krault die älteste Stute am langen Hals, heisse Edelweiss. «Sie ist schon zwanzig Jahre alt und fast schon ein bisschen weise. Daneben steht ihre Tochter Nevada, die ist immer noch ein Mami-Titi. Und dann ist da noch Shelley mit ihren beiden Söhnen, dem vorlauten Sandro und Braulio, der manchmal nicht weiss, wie dumm er tun soll!»
Die vier Familien, die Zweibeiner mit der Führungsleine an der Hand, die Vierbeiner mit dem Gepäck auf dem Rücken, wandern gemächlich am Ufer des Rombach entlang den Bergen entgegen. «Lamas», fährt Sepp fort, «sind grossartige Bergwanderer – sie lieben es, durch den Wald zu stapfen, am liebsten stehen sie ganz oben auf dem höchsten Gipfel!»
Isidor Sepp ist stolz auf seine Bündner Heimat, er führt Gäste und Lamas mit leidenschaftlichem Eifer in die Natur hinaus. Auf dem väterlichen Hof in Müstair, zuunterst im Münstertal und zuhinterst in der östlichsten Ecke des Landes, kam er vor 50 Jahren auf die Welt. «Hier sind meine Wurzeln», sagt er. «Das ist mein Land, mein Boden.»
Mutter- statt Milchkühe im Stall
Er hatte die landwirtschaftliche Ausbildung abgeschlossen und war gerade mal 23 Jahre jung, als er die Verantwortung für den Hof des Vaters übernahm. Isidor, dem eine möglichst naturverbundene Landwirtschaft ein Herzensanliegen ist, hatte beschlossen, den ganzen Betrieb radikal umzustellen. «Es gab nichts anderes», sagt er, «als alles auf die Karte biologischer Landbau zu setzen: Der alte Anbindestall musste einem grosszügigen Laufstall weichen, die Milchwirtschaft wurde durch die Mutterkuhhaltung ersetzt.» Und der «Koffer-Muni», wie die künstliche Besamung im Bauernjargon heisst, durch Montus Pi.
Der Stier, dreieinhalb Jahre alt und 950 Kilo schwer, ist der unumstrittene Star in Sepps Herde – er sorgt dafür, dass jede der 28 Kühe einmal pro Jahr trächtig ist. «Montus Pi macht seinen Job», schmunzelt Sepp. «Und ich mach meinen – so kommen wir ganz gut aneinander vorbei!»
Zehn Monate lang bleibt das Kalb an der Seite seiner Mutter. «Sobald diese ihr Junges nicht mehr säugt, hol ich es mir.» Das erklärt auch, warum die Kälber, anders als ihre Mütter, namenlos bleiben. «Nur wenn die Tiere glücklich leben konnten, wird ihr Fleisch höchsten Qualitätsansprüchen gerecht», sagt Isidor Sepp.
Die Biografie des Biobauern verläuft auf zwei parallelen Ebenen, auf der agronomischen und auf der touristischen. Bei diesem Konzept, das sich in Deutschland und Österreich unter dem Titel «Urlaub auf dem Bauernhof» bewährt hat, geht die Landwirtschaft mit der Gastfreundschaft eine harmonische und oft einträgliche Verbindung ein. Darüber hinaus werden auf der biografischen Zeitschiene regelmässige Zehn-Jahres-Etappen deutlich.
Isidor Sepp war 20, als er den Tourismus-Hut aufsetzte, in Minschuns, dem Münstertaler Schneesportparadies, die Skischule leitete und Monica als Skilehrerin engagierte, eine junge Frau aus Santa Maria, dem Nachbardorf von Müstair. Monica zeigte deutliches Interesse – nicht nur am Job, sondern auch an der naturnahen Biolandwirtschaft und vor allem an diesem smarten Chef, der bald schon ihr Ehemann sein sollte und im Jahr darauf der Vater von Ivan, ihrem gemeinsamen Sohn. Drei Jahre später folgte Sven – und heute ist offenkundig, dass die Söhne in Papas breiten Fussstapfen wandeln: Ivan hat sich in einer St. Moritzer Nobelherberge dem touristischen Marketing verschrieben, Sven absolviert eine landwirtschaftliche Schule.
In Zürich auf die Lamas gekommen
Als er die Umstellung auf biologischen Landbau abgeschlossen und den neuen Laufstall in Betrieb genommen hatte, besuchte er in Zürich, zusammen mit Monica, eine landwirtschaftliche Ausstellung. Und begegnete zum ersten Mal einem Tier, dass ihn mit hoch erhobenem Haupt und aus grossen neugierigen Augen mit einem leichten Anflug von Hochnäsigkeit musterte. «Uns fiel diese faszinierende Ausstrahlung auf – und wir wussten sofort: Bei uns im Münstertal werden sich die Lamas ausgesprochen wohl fühlen.»
Heute, mit 50, steht Isidor Sepp auf dem grossen Vorplatz beim Laufstall, beobachtet amüsiert zwei Kälber, die sich von einer grossen, rotierenden Rundbürste den Rücken massieren lassen – und zieht Bilanz: «Wir sind ganz gut durch dieses Corona-Jahr gekommen. Die Ferienwohnung war durchgehend ausgebucht, wir haben jeden Mittwoch ein Lama-Trekking durchgeführt, über den Hofladen beliefern wir unsere Stammkundschaft, und sobald der Schnee liegt, führe ich Gäste auf Schneeschuhen in die Berge. Dann haben die Lamas Pause!»
Gegen Mittag, nach gut zwei Stunden, kommen die vier Familien zum Hof zurück. In den Gesichtern der Lamas kann man gelangweilte Zufriedenheit ausmachen, in jenen der Menschen Begeisterung.
Shelley habe ihm fast immer gehorcht, freut sich der Bub. «Und si hät mi nöd eimol aagspöizt!»