Auszeit im Bergdorf.
Ein Wochenende in der Val Medel
Von Thalia Wünsche
Tau liegt auf dem Gras, den Wiesenblumen und Lärchennadeln. Der Wald riecht feucht, moosig. Schritt um Schritt kämpfen wir uns den Hang hoch. Der Boden dampft. Wir wahrscheinlich auch. Denn der Aufstieg ist fordernd und wir schwitzen. Die Geräuschkulisse: unser angestrengter Atem, der Ruf der Eichelhäre, im Hintergrund der Motor eines Autos, das den Pass – es ist der Lukmanier – hochfährt. Und der Schrei einer Gämse. Sie ist wohl nicht glücklich darüber, dass wir sie beim Frühstück stören.
Mehr Rehe als Wanderer
Auch auf dem Rest unserer Wanderung nach Plaun Barcuns begegnen wir mehr Tieren als Menschen. Eine kleine Gruppe Rehe, die ins Dickicht springt, ein Eichhörnchen, das einen Stamm hoch rennt. Genau so – ursprünglich und ruhig – haben wir uns die Val Medel vorgestellt. Und deshalb sind mein Partner und ich hierhergekommen. Um ein Wochenende durchzuatmen, wandern zu gehen, gut zu Essen und in den Bergen zu sein. Weit weg von der Stadt, weit weg vom Alltag.
Die Realität hat unsere Vorstellung übertroffen: Die Bergdörfer schmiegen sich kitschig an die grünen Talflanken, die Maiensäss-Siedlungen mit ihren weissen Kapellen sehen aus, als wären sie einem Heimatroman entsprungen. Die Wiesen sind frischgeschnitten. Der Geruch nach Heu hängt noch in der Luft. Idylle pur.
Und auch unsere Unterkunft, die medelina, begeistert. Optisch und mit ihrem Essen geschmacklich. Sie liegt etwas oberhalb des Dorfs Curaglia. Von unserem Balkon sehen wir die Berge. Gebaut und eingerichtet ist sie mit viel Holz. Arve, Tanne und Lärche. Die Hölzer, die hier im Wald wachsen.
Das Rind von Paul und die Zucchetti aus dem Garten
Ebenso regional sind die Zutaten des Abendessens. «Das Fleisch ist von Paul. Also nicht von Paul selber, sondern von seinen Rindern», erklärt der Küchenchef, als er den Hauptgang serviert. Und die Rinder von Paul sind lecker. Besonders in der Kombination mit den Zucchetti aus dem Garten des Berggasthauses. Das Konzept des Regionalen wird konsequent durchgezogen: auf der Speisekarte, bei den Möbeln und sogar der Architekt, der das Haus entworfen hat, ist aus dem Tal.
Gut schmeckt uns auch der Ziegenkäse, den es zum Frühstück gibt. «Dieser ist von Dominik», sagt Livia, die Gastgeberin der medelina. Sie zeigt auf die andere Talseite: «Sein Hof liegt dort drüben.»
Der Bio-Bergbauer aus dem Flachland und seine Frau Eveline machen nicht nur guten Käse, sie bieten auch ein besonderes Erlebnis für Gäste an: Trekkings mit Packziegen von einigen Stunden bis mehreren Tagen. Mit den Tieren würden selbst die lauffaulsten Kinder – so eines war ich – gerne wandern, versichert Dominik bei unserem Besuch auf seinem Hof.
Ein Herz für Ziegen
Als wir mit ihm auf der Weide der Tiere stehen und sich diese an unsere Beine schmiegen, um gekrault zu werden, verstehen wir sofort wieso. «Das ist Lars», sagt er und zeigt auf den grossen weissen Ziegenbock, der seine Nase unter meine Hand schiebt. «Auf den Trekkings trägt er bis zu 15 Kilo.» Lars scheint mich zu mögen und will mir gar nicht mehr von der Seite weichen. Mich stört das nicht: Seine Annäherungsversuche sind liebevoll und mein Herz hat er sowieso schon lange erobert.
Kultur am Berg
Mit Lars und seiner Herde hätten wir gerne den ganzen Nachmittag verbracht – Ziegen streicheln macht glücklich –, aber wir müssen zurück. Denn die medelina ist nicht nur Beherbergungsbetrieb in, sondern auch Kulturzentrum für die Val Medel und hat heute das Bergtheater eingeladen. Es besteht aus den Schauspielern Gian Rupf und René Schnoz, die mit ihrem Programm «Einsame Spitze» durch die Schweiz tingeln. Von SAC-Hütte zu Berggasthaus und weiter zur nächsten Hütte. Das Stück erzählt von zwei alternden Kletterern. Sie wollen es noch ein letztes Mal wissen. So wie früher. Ihre Dialoge sind witzig und tiefgründig, unterhalten und regen zum Nachdenken an.
Nachdem der Applaus verklungen ist, müssen wir auch schon los. Das Postauto und die letzte gute Verbindung nach Chur erwischen.
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Autorin.
Thalia Wünsche
Thalia ist Wahlbündnerin und bringt seit 2016 für Graubünden Ferien Journalist*innen und Blogger*innen an die schönsten Orte der Region. Wenn sie nicht hinter dem Schreibtisch sitzt, ist sie am liebsten in der Natur unterwegs; entweder mit ihrem Hund oder ihrer Kamera.