Von Chur nach Chur.
Ein Roadtrip durch Graubünden
Von Sina Blanke & Jan Glatte
Langsam lichtet sich der Morgennebel, der wie ein weisses Tuch über der Landschaft liegt, und eröffnet einen schier überwältigenden Blick auf die Strasse, die sich den Berg hochschlängelt. Es ist still, so früh morgens sind wir völlig allein hier, geniessen die noch kühle Luft, die Idylle. Riesige Berge umgeben uns, nur wenige bedeckt von Schneekappen. Es ist September, lange wird es nicht mehr dauern, bis die Täler erst goldgelb und dann strahlend weiss erscheinen. Jetzt aber wird die Szenerie bestimmt von sattem Grün, von bunt blühenden Blumen hier und da, vom Läuten der Kuhglocken auf den Alpen.
Über zehn Pässe führt uns unser Roadtrip, quer durch Graubünden – und an all der Schönheit vorbei, die einem den Atem raubt. Wir starten in Chur und schon bald werden die Strassen schmaler, die Berge höher und die Aussichten sensationeller.
Nächte in der Abgeschiedenheit
Im malerischen Bergdorf St. Antönien machen wir Rast und sind sprachlos von der Alpenidylle, die uns umgibt. Schon unser erster Tag in Graubünden zieht uns hinein in die Geschichten von Heidi, lässt uns unseren stressigen, lauten Alltag der deutschen Grossstadt sofort vergessen. Weisse Wolken ziehen über den Himmel, der die grüne Bergidylle überspannt. Stundenlang wandern wir, entdecken kristallklare Bergseen und abgelegene Dörfer, treffen gut gelaunte Wanderer und Angler. Hier ist die Welt noch in Ordnung, so scheint es. Hier hat man Zeit, hier plaudert man. Hier spielt die andere Welt, die, aus der wir kommen, keine so grosse Rolle. Der Wind zerzaust unsere Haare, als wir in unserem Cabrio den Flüelapass hinauffahren. Das Fahrgefühl hier auf den kurvigen Passstrassen ist einzigartig und macht einfach Freude, unser kleiner Roadster scheint genau dafür gemacht zu sein. Wir sausen durch die herrliche Landschaft, spüren die noch erstaunlich warme Sonne auf unserer Haut. Immer wieder machen wir Pausen, geniessen die Ausblicke, die Natur. Graubünden ist Freiheit. Es ist Wohlfühlen. Ankommen.
Die Nächte verbringen wir «mittendrin» im Zehn-Pässe-Roadtrip-Gefühl – oben in den Hospizen auf den Pässen. Immer werden wir freundlich empfangen, immer ist das Essen lokal, frisch – eine Offenbarung. Die Atmosphäre hier oben in den Hospizen – abends, wenn der Trubel vorbei ist, die Gruppen von Motorradfahrern und die Reisebusse weitergezogen sind, dann, wenn die Stille einkehrt – kann man wahrscheinlich nicht beschreiben, man muss sie erleben.
In mehr als einer Nacht nutzen wir die exklusive, abgeschiedene Lage der Hospize für einen Spaziergang durch die Dunkelheit, umgeben von Millionen Sternen. Hier oben fühlen wir uns verbunden, eins mit der Natur – und nicht nur das traditionelle Flair der Hospize sorgt für eine scheinbare Losgelöstheit von der Zeit und damit auch von allem Alltag, allen Sorgen. Plötzlich scheint es nur noch wichtig, einfach da zu sein, heute Nacht, hier an diesem Ort, in dieser unendlichen Stille, dieser unendlichen Schönheit.
Im Paradies für Reisende und Fotografen
Die Route der nächsten Tage führt uns durch den Schweizerischen Nationalpark, die Val Müstair, die Valposchiavo und ins Engadin. Wir verlieren uns in stundenlangen Wanderungen, sensationellen Ausblicken und schlemmen lokale Spezialitäten in fantastischen Restaurants. Mit der Seilbahn fahren wir auf den Muottas Muragl und geniessen eine spektakuläre Sicht auf St. Moritz und die Engadiner Seenplatte.
Nicht nur als Reisende, auch als Fotografen sind wir im Paradies. Wir können uns nicht sattsehen an den einmaligen Motiven, den Farben. Oben am Julierpass sitzen wir einfach da und schauen dem Sonnenuntergang zu, der den Pass in das schönste Licht taucht. Zum Bimmeln der Kuhglocken schlafen wir ein und wachen morgens mit einmaligen Panoramaaussichten auf die Schönheit Graubündens auf. Unsere Reise macht einen Abstecher in das beschauliche Bergeller Bergdorf Soglio und wir fühlen uns um 100 Jahre in der Zeit zurückversetzt. Nichts trübt hier das ursprüngliche Erscheinungsbild des Dorfes, es gibt keine Autos, keine bunten Hinweistafeln, keine Touristengruppen. Dafür können wir in die Ställe hineinschauen, sehen und erleben die unperfekte Perfektion alter Bauweise, essen im historischen Garten des Palazzos. Wir fühlen uns wirklich da, mitten im alten Leben, und nicht wie in einem unbelebten Museumsdorf. Genau diese Authentizität macht Soglio aus. Wie wohl noch nie zuvor spüren wir die Atmosphäre vergangener Zeiten.
Die historische Atmosphäre spüren wir auch in Cama, einem Dörfchen in der Nähe der italienischen Grenze, das wir gegen Ende unserer Reise besuchen. Bekannt ist der Ort durch 46 Grotti, Bauten aus längst vergangenen Zeiten, die der Vorratshaltung dienten. Wir essen im Grotto Bundí alla Bellavista eines der besten Mittagessen unseres Lebens, von dem wir noch ewig schwärmen werden. Hier treffen wir den Präsidenten des Grottivereins. Er erzählt uns von den Grotti, zeigt uns ihre Funktion, führt uns durch die Welt der alten Tage. Der Stolz auf die Besonderheit der Region ist hier in Cama in jedem Wort spürbar, in jedem Blick sichtbar. Spannend an Cama ist aber auch das Zusammentreffen der verschiedenen Regionen, der verschiedenen Länder, der Sprachen, der Traditionen, der Religionen, der Gewohnheiten. Hier in Cama liegt man zwischen zwei Ländern, vereint beide auf eine ganz besondere Weise.
Ein Stück von uns ist hier zuhause
Entlang typischer Passdörfer geht es für uns auf geschlängelten Strassen weiter durch die einzigartige Welt der Alpen. Unser Wunsch, Murmeltiere zu beobachten, geht in Erfüllung. Wir passieren Weinberge und Burgen, die wir in Graubünden gar nicht erwartet hatten. Und dann, als Abschluss unserer Fahrt, wartet noch ein Highlight auf uns: die Rheinschlucht, die unseren Weg nach Chur begleitet. Atemberaubende Ausblicke in den Sonnenuntergang und die sich entlang des Abgrunds an den Berg schmiegende Strasse sind der krönende Abschluss unserer Reise über zehn Pässe – fotografisch und auch fahrerisch.
Wir beenden unsere Reise mit Speicherkarten voller Fotos und Herzen voller Erinnerungen. Sie werden uns wieder nach Graubünden ziehen, hierhin, mitten in die Schönheit der Schweizer Alpen. Denn das ist wohl der Preis, den man für Reisen wie diese zahlt, für Erfahrungen so fernab von unserem Alltag: Ein Stück von uns ist jetzt hier zuhause.
Der perfekte Roadtrip durch Graubünden
Wer sich selber hinters Steuer setzen und sich auf einen unvergesslichen Roadtrip begeben möchte, findet hier die gesamte Route inklusive Tipps von Sina und Jan.
Tag 1: Chur–Flüelapass
Von Chur über Landquart, Küblis und Davos geht es bis auf die Passhöhe des Flüelapasses.
- Tipp: Einen Abstecher zum Partnunsee unternehmen.
- Übernachten: Passhotel Flüela Hospiz
Tag 2: Flüelapass–Ofenpass
Vom Flüelapass hinunter führt die Route an diesem Tag über Susch im Unterengadin, vorbei an der wunderschönen Landschaft des Nationalparks und bis auf den Ofenpass.
- Tipp: Im Schweizerischen Nationalpark wandern.
- Übernachten: Hotel Süsom-Givè
Tag 3: Ofenpass–Julierpass
Nach der Fahrt durch die Val Müstair verlässt man die Schweiz über den Umbrailpass kurz, bevor es durch die Valposchiavo und über den Berninapass ins Oberengadin und schliesslich auf den Julierpass geht.
- Tipp: Im Oberengadin mit der Standseilbahn auf Muottas Muragl fahren.
- Übernachten: Ospizio La Veduta
Tag 4: Julierpass–Splügenpass
Über den Malojapass führt der Weg hinunter ins Bergell. Nach einem weiteren Abstecher nach Italien kehrt man über den Splügenpass nach Graubünden zurück.
- Tipp: Durch das Bergdorf Soglio spazieren.
- Übernachten: Berghaus Splügenpass
Tag 5: Splügenpass–Curaglia
Über den San-Bernardino-Pass und den Lukmanierpass führt die Route an diesem Tag und macht dabei einen kurzen Abstecher ins Tessin.
- Tipp: Mittagessen im Grotto BundÍ alla Bellavista in Cama.
- Übernachten: medelina
Tag 6: Curaglia–Chur
Nach einem Abstecher auf den Oberalppass, dem Übergang nach Uri, geht es durch die Surselva und der Rheinschlucht entlang zurück nach Chur.
- Tipp: Das Benediktinerkloster Disentis besuchen
Autoren.
Sina Blanke & Jan Glatte
Sina und Jan sind leidenschaftliche Fotografen und naturliebhabende Weltreisende. Sie sind Freiheitsjunkies. Wanderer. Entdecker. Das Paar liebt Roadtrips und Abenteuer, raue Landschaften und ursprüngliche Natur. Es sind Entdeckungen abseits der Touristenspots und Motive abseits des Mainstreams, die das Reisen für die beiden interessant und besonders machen.