Alpine Wildnis.
Trekking durch die Bündner Berge
Von Caroline Fink (Text und Fotos)
Noch packen Wolken die Gipfel rund um die Lenzerheide ein, als wir uns hinter der Talstation der Rothornbahn über einen Holztisch beugen. Outdoor Guide Tim Frey hat Landkarten ausgebreitet, um seinen Gästen – das sind Anne, Jacob und ich – die Route zu zeigen, auf der wir zu Fuss durch die Gipfelwelt trekken werden. Seine Finger gleiten über das Gebiet zwischen Lenzerheide und Arosa, über Hochebenen, Pässe und Bergseen mit Namen wie Sanaspans, Ramoz und Altein. Namen, die an Märchenwelten erinnern und für eine einsame Bergwelt stehen, durch die wir drei Tage lang ziehen werden.
Tag 1: Weglos ins weite Land
Nur wenige Minuten hinter der Bergstation der Rothornbahn tauchen wir ein in einen Wald, so verträumt, dass Trolle und Feen im Geäst leben könnten. Tim Frey geht voran. Gemächlich, so dass das Gehen leichtfällt, obwohl die Rucksäcke schwer sind. Kocher, Haferflocken, Pasta, Reis, Schlafsäcke – alles tragen wir mit, da wir selbst kochen und draussen schlafen werden. Doch wir vergessen das Gewicht, während wir dem Wanderweg entlang gehen, der sich durch den Wald schlängelt, die Regetropfen an Tannenzweigen glänzen, die Wolken allmählich aufreissen und Sonnenlicht in leuchtenden Fächern durch die Baumkronen fällt.
Als wir die letzten Bergföhren hinter uns lassen und die Alp Sanaspans erreichen, begegnen wir noch einmal der Zivilisation: Der Älpler serviert uns auf der Terrasse Apfelstrudel und Holundersaft. Danach ziehen wir weiter, queren Weiden, steigen Grasflanken hoch, gehen über Stock und Stein, bis wir eine Hochebene erreichen, umgeben von Gipfeln, die – wie in einem mächtigen Amphitheater – in den Himmel ragen. Wir sind allein, nur der Wind begleitet uns, zerrt an Grasbüscheln und weht über weite Geröllfelder. «Wie wunderbar», sagt Tim Frey. «Hier kannst du einfach gehen, weglos und frei.» Er ist einer, der die Freiheit mag. Wobei frei für ihn heisst: wenig zu besitzen. «Und das zu tun, was dich erfüllt.»
Heisser Tee zum Mondaufgang
Befreit fühlen wir uns auch, als wir die Rucksäcke auf einer Anhöhe deponieren. Hier werden wir lagern, doch vorher steigen wir auf eine nahe Kuppe, um über die Weite des Bündner Gipfelmeers zu blicken. Erst als die Sonne tiefer sinkt, kehren wir zu unseren Rucksäcken zurück, holen im nahen Bergsee Wasser, kochen auf dem Gaskocher Pasta und sehen bald den Mond aufgehen. «Wisst ihr, wie man mit einer Blache ein Zelt baut?», fragt Tim Frey. «Nein? Ich zeige es euch.» Die Ecken mit Heringen im Boden fixiert, den Wanderstock in die Mitte geschoben, steht Minuten später ein Unterschlupf für die Nacht. «Einer, der garantiert keine Spuren hinterlässt.» Denn dies ist dem Outdoor Guide wichtig: die Wildnis so zu hinterlassen, als wäre er nie dort gewesen. Eine Weile noch sitzen wir im Mondlicht und trinken heissen Ingwertee. Dann legen wir uns schlafen inmitten der Stille. Einer Stille, die so tief ist, dass sie vom Anfang und Ende der Welt zu erzählen scheint.
Tag 2: Unterwegs im Einklang mit der Natur
Am nächsten Morgen wachen wir auf, als der erste Sonnenstrahl wie warmes Gold über uns streicht. Minuten später zischt die blaue Flamme des Gaskochers und bald halten wir Tassen dampfenden Kaffees und Schalen voll heisser Porridge in den Händen. Wir lassen uns Zeit mit dem Aufbruch. Gerade so, als hätte sich die Ruhe der Natur bereits in unser Wanderleben geschlichen.
Es ist später Vormittag, als wir den Gipfeln – sie haben klingende Namen wie Piz Mez und Piz Mosch – entgegensteigen, dann die Geröllflanken von Culmet traversieren und den Pass der Furcletta überqueren. Manchmal halten wir an, um in dieses wilde Land zu blicken, das immer einsamer wird. Nur noch der Wind begleitet uns und zerrt beidseits des Weges an trockenen Grasbüscheln. Einmal halten wir an einem sprudelnden Bach an und filtern Wasser, um unsere Trinkflaschen zu füllen. Dann wandern wir weiter, an namenlosen Bergseen und Heidelbeersträuchern vorbei. «Wo bloss sind die Leute geblieben?», frage ich mich. Nur einmal rollt ein Mountainbiker an uns vorbei und vor der Ramozhütte picknicken zwei Wanderer.
Alles so friedlich hier
Doch genau das sucht Tim Frey für seine Gäste: Orte, an denen man nur noch Murmeltieren und Steinböcken begegnet. Orte auch, an denen man ganz im Einklang mit der Natur unterwegs ist, und alles mit sich trägt, das man braucht. Dort erlebe er die Berge so, wie sie vor Jahrtausenden waren. «Und verlasse sie so, als wäre ich nie dort gewesen.»
Als wir die Hochebene von Altein erreichen, werfen die umliegenden Gipfel lange Schatten ins Tal. Wie am Vortag suchen wir ein Plätzchen, um zu lagern, und finden dieses in der Nähe eines Bachs, der durch die Wiese plätschert. Als würden wir uns seit langem kennen, sitzen wir an diesem zweiten Abend um den Gaskocher. Essen Ebly mit Steinpilzen, plaudern und lachen, bis die Sonne mit einem letzten Aufleuchten hinter einem Zackengrat verschwindet. Nur Minuten später färbt sich der Himmel tintenblau und der Abendstern beginnt zu glimmen. «So friedlich», sagt Tim Frey. Und friedlich schlafen wir bald wieder ein, derweil der Bach die ganze Nacht lang plätschert und die Sterne über uns ihre Bahnen ziehen.
Tag 3: Wind und Regen zum Abschied
Als der Morgen anbricht, weht ein kalter Wind und Wolkenbauschen schieben sich um die Gipfel. Gegen Mittag soll es laut Wetterbericht regnen und so marschieren wir los, als selbst die Murmeltiere noch schlafen. Es ist der letzte Tag unseres Trekkings und wir wandern bergab Richtung Arosa. Hie und da brechen noch Sonnenstrahlen durchs Gewölk und streichen über die Flanken. Dann fallen die ersten Regentropfen und wir schlagen die Kapuzen hoch.
Lange aber dauert es nicht, bis wir von einer Graskuppe aus die Häuser von Arosa entdecken. Und wie am ersten Tag tauchen wir wieder ein in Kiefernwald. Halten noch einmal an beim Alteiner Wasserfall, dessen Wasser wie Silberfäden über Stufen stiebt, und steigen dann zügigen Schrittes ab. Die Kälte kriecht schon unter die Jacken, was uns indes nicht stört, wissen wir doch: Lang wird es nicht mehr dauern, bis wir im geheizten Wagen der Rhätischen Bahn sitzen und an die Tage zuvor denken werden. Zwei Tage, an denen die Sommersonne schien und wir die Bündner Berge erkundeten – dort, wo sie so einsam und wild sind, wie kaum jemand sie kennt.
Fotografin und Autorin.
Caroline Fink
Caroline Fink ist Fotografin, Filmerin und Autorin und – selbst Alpinistin – spezialisiert auf Geschichten aus den Alpen, den Bergen der Welt sowie Orten, die nah am Ursprung der Natur liegen. Sie lebt mitten in der Stadt Zürich, verbringt jedoch rund hundert Tage pro Jahr draussen. Am liebsten dort, wo die Routen so wild und einsam sind wie am Anfang und Ende der Zeit.