Flaschenpost-Challenge.

Von der Bündner Herrschaft in die Valposchiavo

Kuh riecht am Rucksack (© Martin Hoch)
Martin Hoch stellt sich der Herausforderung mit dem E-Bike, eine Flasche Wein auf direktestem Weg von Fläsch nach Campascio zu transportieren. Leiten lässt er sich vom Zufall. Er kennt weder seine Route noch seine Unterkünfte.  

Von Martin Hoch

Via Martino steht auf den vier Landkarten, die ich erhalte. Eine Reise, nach mir betitelt. Das wird meine Reise. Eine ungewöhnliche wird es sein. Denn ich weiss weder, wo ich übernachten werde, noch kenne ich die Route. Doch die Leitplanken sind gesetzt: In vier Tagen soll ich eine Weinflasche vom Winzer des nördlichsten Rebbergs des Kantons zum Winzer des südlichsten Rebbergs der Valposchiavo spedieren.

Tag 1:

Vom Baumkuscheln und dem rosa Wolf

Ich sattle mein Transportmittel, ein E-Mountainbike. Ich bin nun eine Kleinstspedition oder eine Flaschenpost auf zwei Rädern. «Overnight-Delivery» biete ich nicht an. Vier Tage Zeit habe ich, um eine Flasche mit Wein, gewonnen aus den Trauben des nördlichsten Weinbaugebiets Graubündens, ins südlichste der Valposchiavo zu transportieren. Dies so nahe der Luftlinie entlang wie möglich. Auf direktem Weg eben, so wie es sich für einen Spediteur gehört. So lautet mein Auftrag. Dazu erhalte ich ein Set an Regeln. Eine davon lautet, dass ich zwischen 10 und 17 Uhr stündlich aus einem «Säckli» einen Auftrag rausfischen muss und diesen gleich vor Ort umsetzen soll. Doch erst muss ich meine Ware entgegennehmen. Ich trete in die Pedale, peile Fläsch an.

Mein Ziel ist das Bad Fläsch, unweit der Grenze zum Fürstentum Liechtenstein. An den Toren der Blaublüter, am Fusse des Regitzer Spitz, übergibt mir Winzer Roman Herrmann einen Blauburgunder. Gerne würde ich hier noch mit ihm in seinem Grotto sitzen und ein Gläschen trinken, doch ich muss los. In der Logistikbranche ist Zeit bekanntlich Geld. Vor allem aber brauche ich einen Plan. Wo werde ich heute nächtigen? Eine Regel setze ich mir selbst: Es soll jeweils eine spezielle Unterkunft sein, eine, die zum Bergkanton passt. So breite ich die Landkarten vor mir aus und ziehe gedanklich eine direkte Linie von Fläsch in die Valposchiavo. Um Millimeter liegt Arosa nicht mehr auf der ersten Karte, auf der ich mich am ersten Tag bewegen darf. Es wäre gut gelegen. Einen Joker für ein einmaliges Verlassen des auf der jeweiligen Karte angezeigten Gebiets habe ich, geht mir durch den Kopf. Doch ich setze ihn noch nicht ein. Denn mein Blick fällt aufs nahegelegene Sapün. Da soll eine besonders schöne Unterkunft stehen.

Winzer Roman Herrmann (© Martin Hoch)

Mit vollgepacktem Rucksack und Ersatzakku geht’s ab Chur hoch nach St. Peter, durchs Skigebiet Hochwang und über Langwies ins Walserdorf Medergen. Jeweils mit spassigen Unterbrüchen: den stündlichen Aufgaben. So stehe ich beispielsweise vor dem geschlossenen Skihaus Hochwang. Die Aufgabe: Geh zur nächsten Kapelle und zünde eine Kerze an. Wenn es keine Kapelle hat, baust du eine. Wie bitte? Eine Kapelle? Während ich verdutzt über die Alpwiesen schaue, höre ich ein Geräusch. Jemand hämmert. Erst noch dachte ich, hier oben sei niemand. Ich gehe hinter die Hütte und treffe auf einen älteren Herrn. Ob er der Besitzer des Hauses sei? Nein, er baue hier eine Sauna. Bauen? Das muss ich auch: eine Kapelle. Und schon schraubt mir der nette Herr ein Kreuz aus Holz zusammen.

Später lautet eine Aufgabe, einen Baum fünf Minuten zu umarmen. Genau mein Ding. Eben nicht, aber eine willkommene Pause. Kurz vor Medergen, noch immer tiefenentspannt vom Baumkuscheln, greife ich zur vollen Stunde wieder in mein «Säckli»: Schimpfe grundlos über etwas. Schimpfen? Jetzt? Falsche Aufgabe zur falschen Zeit. Und so erreiche ich gutgelaunt Medergen, wo ich in der Alpenrose von Migga und Fredo Fallet eine Lammbratwurst verspeise.

Glücklich, dass es nun nur noch abwärts geht, fahre ich des Weges. Da klingelt meine innere Uhr. Auf die ist inzwischen Verlass. Nun wird das Velo gestossen, bis Du etwas Rosarotes siehst. Fies, alles was ich sehe, sind graue Berge, gelbe Blumen und grüne Wiesen. Einem rosaroten Wolf werde ich wohl auch nicht begegnen. So erfülle ich mit Inbrunst meine noch nicht erledigte Aufgabe und beginne lauthals zu schimpfen. Ganze dreissig Minuten schiebe ich meinen Drahtesel, bis mich schliesslich eine winzig kleine rosarote Blume erlöst.

Kreuz (© Martin Hoch)
Bäume umarmen (© Martin Hoch)

Ende gut, alles gut: Mein Tagesziel ist genauso heimelig, wie ich es mir vorgestellt habe. Das «Heimeli», ein 300-jähriges Walserhaus ist die Unterkunft meiner Wahl. Während ich bei einem kühlen Bier die Beine hochlege, wandert der Uhrzeiger in Richtung meiner letzten Aufgabe: Heute zum Znacht gibt es von der Menükarte die Hauptspeise Nummer 5. Nichts leichter als das. Auf dieser Position steht: Rindsgeschnetzeltes an Kräuterrahmsauce mit Pizokels und Gemüse. Somit ist für morgen auch gleich wieder eine Aufgabe gefasst: Kalorien abstramplen.

Blick auf Langwies (© Martin Hoch)

Tag 2:

Eistee statt schwitzen

Nicht meine innere Uhr klingelt. Sondern mein Handywecker. Ich freue mich auf den Tag – komme was wolle. Na ja, fast. Der Euphoriepegel geht beim Weg hoch zur Passhöhe des Strelapasses, über den ich nach Davos gelangen soll, nicht gänzlich durch die Decke. Der Pfad ist steil und schmal. Vor allem aber derart steinig, dass mir selbst die «Battery Power» nichts hilft. Ich stosse das Bike öfter, als dass ich es fahre. Dazu gesellt sich eine Sorge. Seit heute Morgen zeigt jedes Foto auf dem Kameradisplay zwei schwarze Balken. Ist das Display beschädigt oder sind gar alle für den Artikel geschossenen Bilder unbrauchbar?

In Davos angekommen, möchte ich dem auf den Grund gehen. Nein, ein Fotofachgeschäft gäbe es in Davos nicht mehr, erfahre ich. Da sehe ich ein Schild: Davoser Zeitung. Kollegen helfen einander. Einer der Redaktoren nimmt meine Chipkarte und zusammen checken wir am Bildschirm, was Sache ist. Grosse Erleichterung, die Fotos sind nicht beschädigt. Dankbar und mit einer Davoser Zeitung unterm Arm radle ich zum Kaffee Klatsch. Der Magen knurrt. Kaum sitze ich, zeigt die Wanduhr im Restaurant zwölf Uhr. Zeit für eine weitere Aufgabe. Ich soll eine Flaschenpost basteln und ins nächste Gewässer werfen. Angenehmer als meine 11-Uhr-Aufgabe: Da musste ich wildfremden Leuten Komplimente verteilen. Ich schaue auf die Landkarte und sehe, dass hier die Landwasser durchfliesst. Und kaum ist die Nachricht an den Finder geschrieben, die Flasche verziert und im Wasser, ist wieder Zeit für eine Aufgabe. So komme ich doch nicht vorwärts! Dabei möchte ich heute noch zur Bergstation des Rinerhorns raufstrampeln, um danach den Trail ins Sertigtal runterzubrettern. Was soll’s. Ich stelle mich dem Ungewissen und bin verzückt: Gönn Dir heute eine Bergfahrt mit einer Gondelbahn. Nur die Bergfahrt. Ein Lotto-Sechser.

Oben angekommen heisst’s Eistee schlürfen statt schwitzen. Gutes Timing ist in der Logistik nun mal alles. Meine letzte Aufgabe bereitet ebenfalls Spass. Ich soll einen Blumenstrauss pflücken und verschenken. Ich überreiche ihn der Gastgeberin meines heutigen Tagesziels: dem Hotel Walserhuus im Sertig.

Flaschenpost (© Martin Hoch)

Tag 3:

Ich setze den Joker ein

Meine Vorstellungen für den heutigen Tag platzen vor dem Gang ans Frühstücksbuffet. Ich wollte über den Sertigpass, durchs Val Funtauna und Val Susauna runter nach Chapella ins Engadin. Doch mir wird davon abgeraten, es habe oben noch zu viel Schnee.

Ziellos erreiche ich das kleine Davos Monstein, setze mich in den Dorfladen, nippe an einem Kaffee und bemühe meine Hirnzellen. Und während ich über den bevorstehenden Tag sinniere, lausche ich den Dorfgeschichten, die mir vom Verkaufspersonal erzählt werden. So lerne ich, dass im Dorfladen einst Prinz Charles eine Dose Ovomaltine kaufte. Und, dass man hier früher Gottvertrauen hatte. Der damalige Bau der neuen Kirche, im Jahr 1897 fertiggestellt, verfügte über 200 Sitze, mehr als Monstein Einwohner hatte. Ich bedanke mich für den Kaffee und verabschiede mich. Rasant geht’s runter in die Zügenschlucht.

Kurz vor Filisur treffe ich auf das markante Landwasserviadukt. Und amüsiere mich über meine 11-Uhr-Aufgabe. Mache fünf Selfies von Dir, bei denen man Deine Emotionen sieht: glücklich, stolz, ungeduldig, erstaunt und verliebt. Ich schneide mit mir selbst Grimassen um die Wette. Gut, dass ich hier in der Schlucht alleine unterwegs bin. Doch Zeit darf ich heute nicht verlieren. Mein Tagesziel liegt ausserhalb der Landkarte. Ich möchte heute noch einen Blick in die Valposchiavo werfen, den Duft des Südens riechen. Heisst: Joker einsetzen. Als «Extra-Booster» setze ich mich in Filisur in den Zug, der mich östlich des Albulatunnels in Spinas wieder ausspuckt. Von da radle ich durch die wildromantische Val Bever, weiter via Pontresina, am Morteratschgletscher vorbei, hoch zum Lago Bianco. Unterwegs baue ich ein Steinmännchen, eine weitere Aufgabe, und erreiche schliesslich die Alp Grüm, wo ich im Albergo Belvedere einchecke und von der Terrasse aus die Valposchiavo überblicke.

Überfahrt des Berninapasses (© Martin Hoch)

Tag 4:

Auch das noch ...

Das wird ein Fest: Von der Alp Grüm auf 2100 m ü. M. runter nach Campascio, das auf 637 m ü. M. liegt, sausen. Die kühle frühmorgendliche Luft streift mein Lächeln im Gesicht. Das Tempo ist hoch. Unter mir spicken die Kiesel weg. Und dann erklingt der Ton, vor dem ich mich die ganzen Tage fürchtete: Pfffffff. Ein Platten. Es ist, als hätte jemand bei einem Thriller an der spannendsten Stelle die Stopptaste gedrückt. So schiebe ich mein Fahrgestell die wenigen Minuten bis zum Bahnhof Cavaglia und nehme den Zug nach Poschiavo, wo ich mich auf den Hauptplatz, die Piazza Comunale, setze und ein Picknick-Frühstück einnehme: ein Puschlaver Ringbrot, Trockenfleisch aus dem Engadin und einen hiesigen «Supertony»-Käse.

Wie weiter? Es ist zehn Uhr. Mein Termin mit Winzer Piero Triacca, der als einziger zusammen mit seinem Bruder einen Rebberg in der Valposchiavo bewirtschaftet, ist auf elf Uhr angesetzt. Ihm muss ich die Flasche übergeben. Meine zwei erlaubten Zugfahrten habe ich bereits eingelöst. Zu Fuss nach Campascio? Ich ziehe meine Aufgabe. Glückspilz! Fahre mit dem ÖV exakt fünf Stationen in die Richtung Deiner Wahl. So steige ich in Poschiavo ein, fünf Stationen später in Campascio aus und liefere die Weinflasche um Punkt elf Uhr ab.

Just in time.

Winzer Triacca (© Martin Hoch)
Martin Hoch

Autor.

Martin Hoch

Martin ist Blogger, Journalist und Wahlbündner. Auf seinen Reisen lässt er sich gerne vom Zufall leiten und liebt es, ungeplant die Fremde zu erkunden. Genauso ist es seine Profession und Leidenschaft, Reisedestinationen auf den Grund zu gehen, um die bestmöglichen Tipps für seine Leserinnen und Leser mit nach Hause zu nehmen.

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Lago Bianco, Poschiavo (© Martin Hoch)

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Cover © GRF, Marco Hartmann

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