Wilde Wasser gründen tief.
Natur-Erlebnisse im Naturpark Biosfera Val Müstair

Text – Lisa Savenberg / Bild – Nico Schaerer
Tag 1
Von Tschierv nach Müstair
Am ersten Tag steht der Themenweg «A la riva dal Rom» auf dem Programm. Er startet bei Süsom-Tschierv, im Quellgebiet des Roms. Regelmässig bietet der Naturpark Biosfera Val Müstair hier ein Erlebnisangebot für Schulklassen an. Die Jugendlichen erforschen die Kleinlebewesen des Bergbachs, um Rückschlüsse auf den Gewässerzustand zu ziehen. Der Rombach eigne sich dafür perfekt, sagt Christiane Stemmer, eine der Leiterinnen des Angebots. «Er hat viel von seiner Natürlichkeit erhalten – das macht ihn so erlebbar.» Als einziger Haupttalfluss der Schweiz wird der Rombach nicht zur Stromerzeugung genutzt.
Der Pfad führt weiter nach Tschierv Plaz. Mitten im Dorf macht das Quellwasser des Roms eine preisgekrönte Verwandlung durch: In der Antica Distilleria Beretta wird es zu edlen Destillaten verarbeitet – es sind meisterliche Kombinationen aus Berggetreide, Blumen, Wurzeln und Kräutern. Wer hingegen nach der erlösenden Abkühlung an heissen Sommertagen sucht, dürfte sich über Tschiervs kleines, aber feines Freibad freuen. Danach wird es Zeit, die Wanderschuhe endgültig festzuschnüren.


In Richtung Fuldera passiert man die Ebene Palü dals Lais, die «Seensümpfe». Hier kann der Rom frei mäandrieren, was er mit sichtlicher Hingabe tut. Nicht immer war das so: Um Kulturland zu gewinnen, wurde der Bach in diesem Gebiet um 1940 kanalisiert, die Ebene entwässert. Doch der Abfluss funktionierte nicht richtig, zu eigenwillig war der Rom. So entschied man Anfang der 2000er-Jahre, ihm Freiheit und Raum zurückzugeben: «Das Flussbett wurde von zwei auf dreissig Meter erweitert und die Landschaft revitalisiert», erklärt Christiane Stemmer. Heute blüht und zirpt und zwitschert es an den üppigen Ufern des – wieder wilden – Bergbachs. Am und im Rom konnten sich Lebensräume für unzählige Tiere und Pflanzen entwickeln.
Weiter geht es nach Furom und auf verwunschenen Pfaden vorbei am Spielplatz unterhalb von Valchava. In Sta. Maria lernt man die Muranzina kennen, einen Zuläufer des Roms. Die Muranzina treibt das Mühlrad der «Muglin Mall» an, der 350-jährigen Mühle unten im Dorf. Mehl mahlt sie zwar kaum noch, dafür ist die Muglin Mall Museum, Veranstaltungs- und Lernort zugleich. Auch hier gelingt es Christiane Stemmer, Besucherinnen und Besucher für das Wasser und seine Kraft zu begeistern. Sie engagiert sich als Museumsleiterin und freiwillige Müllerin. «Alle Gewässer geben uns etwas zurück», ist sie überzeugt, und gerade in der Mühle sei die Energie und Lebendigkeit des Wassers spürbar. Denn welches Beispiel wäre anschaulicher als der Weg des Korns, der mithilfe von Mühlrädern beim nährenden Brot auf dem Teller endet?


Nach einem letzten Wegstück erreicht man Müstair. Ein wunderbarer Ort zum Ankommen und Ruhen ist die Chasa Chalavaina, die 2024 zum historischen Hotel des Jahres gekürt wurde. Wie das Hotel Helvetia, der Münsterhof und der Camping Muglin gehört es zu den Biosfera-Partnerbetrieben im Dorf. In dem prächtigen Engadinerhaus wird eine fast 800-jährige Geschichte sorgsam am Leben erhalten – mit historischen Holzbetten und Bauernschränken, Arvenstube und Holzrussofen. Abends kommt Biosfera-Wasser und allerlei Feines aus dem Tal auf den Tisch, immer neu kombiniert und mit Blumen und Kräutern aus dem Garten dekoriert. Selbst bei der Tischwäsche wird das Hiesige zelebriert: Sie wird in der Handweberei Tessanda im Nachbardorf hergestellt.
Tag 2
Von Sta. Maria nach Buffalora
Geweckt wird man vielleicht von Glocken des benachbarten Klosters, vielleicht vom Kaffeeduft, der sich seinen Weg durch die geschichtsträchtigen Gänge bahnt. Nach einem üppigen Frühstück geht es mit dem Postauto zurück nach Sta. Maria, wo der Aufstieg durch das Val Vau beginnt. Durch einen Fichten- und Lärchenwald schlängelt sich der Weg, der auf der Höhe von Las Castras eine Abzweigung erreicht. 1,5 Stunden würde der Abstecher von hier aus zum kristallklaren Bergsee Lai da Rims dauern, der auf dem klösterlichen Grund des Clostra Son Jon liegt. Auch wer direkt weiterzieht, wird nach dem Anstieg mit bedeutsamen Gewässern belohnt.

Das Gebiet bei Döss Radond bildet eine kontinentale Wasserscheide: Hier entspringt die Aua da Val Mora, die einerseits über den Rom ins Adriatische, andererseits über den Spöl ins Schwarze Meer fliesst. Spätestens jetzt ist Zeit für eine Rast, während man den Blick durch das wilde Hochtal Val Mora schweifen lässt. Nichts als Plätschern, Murmelpfiffe und Wind ist zu hören. Glitzernd und verworren zieht sich die «Aua» durch das Tal, mal schmal und bescheiden, an anderen Stellen nimmt ihr steiniges, von schroffen Felsen flankiertes Flussbett den grössten Teil der Ebene ein. Flach führt der Weg zur Alp Mora, dann steil hoch zum Döss dal Termel. Eine letzte Belohnung zum Schluss: Die Durchquerung der Hochebene Jufplaun, die 2013 renaturiert wurde. So konnte sich eine herrliche Flachmoorvegetation entwickeln. Hier kann man noch einmal Natur und Abgeschiedenheit geniessen, bevor es sanft abwärts Richtung Buffalora geht.
Auf einen Blick: Leben am, im und mit Wasser
Fliessende und stehende Gewässer, Auen und Moore prägen die Landschaft der Biosfera Val Müstair. Nicht nur Menschen lassen sich gern an ihren Ufern nieder, auch zahlreiche Tiere und Pflanzen finden am und im Wasser Heimat. Mit Sorgfalt setzt sich der
Naturpark dafür ein, dass dies weiterhin so bleibt.
- 12. Jahrhundert Die Anziehungskraft des Lai da Rims reicht weit zurück: Man vermutet, dass er seit dem im Besitz der Klosterfrauen St. Johann ist.
- 5 Dörfer finden sich in Ufernähe des Rombachs: Tschierv, Fuldera, Valchava, Sta. Maria und Müstair.
- 200 Bachforellen von mindestens 28 cm werden jährlich aus dem Rom gefischt.
- 84 % aller heimischen Tier- und Pflanzenarten können in regelmässig gefluteten Auen‑gebieten – wie zwischen Valchava und Müstair – vorkommen.
- 2013 wurde die Hochebene Jufplaun renaturiert, sodass das Flachmoor heute Amphibien, Insekten und kleine Fische beheimatet.

Autorin.
Lisa Savenberg
Lisa Savenberg erkundet neue Orte am liebsten zu Fuss – wilde Naturlandschaften genauso wie pulsierende Städte. Beruflich ist sie in der Kommunikation und Redaktion heimisch, ihre Texte erschienen zum Beispiel im «Transhelvetica».