Wir leben hier mit den Elementen.
Natur-Erlebnisse im Schweizerischen Nationalpark

Text – Martin Hoch / Bild – Nico Schaerer
Tag 1
Von Il Fuorn zur Cluozza-Hütte
Ausgangspunkt der Wanderung ist Il Fuorn, wo sich das einzige Hotel im Schweizerischen Nationalpark befindet. Von dort geht es via Grimmels nach Vallun Chafuol – oder man nimmt für dieses Stück das Postauto und geniesst den Blick auf die wilde, unverbaute Ova dal Fuorn. Der Bach entspringt am Südfuss des Piz Foraz und mündet in den Spöl, der danach zum Lai dad Ova Spin gestaut wird. Letzteren erreicht man nach einem kurzen Abstieg. Sein helles Türkis leuchtet einem förmlich entgegen, ein eindrücklicher Farbkontrast zu den umliegenden tiefgrünen Wäldern.
Seit 1970 wird der Stausee Ova Spin für die Stromproduktion genutzt. Dadurch wurde der Spöl zum Restwasserbach. Damit sich der Fluss trotzdem möglichst natürlich entwickeln und sein Ökosystem erhalten kann, werden im Schweizerischen Nationalpark künstliche Hochwasser erzeugt: Die sporadischen Flutungen geben dem Spöl wichtige Dynamik und einen Teil seines Wildwasser-Charakters zurück. Es ist ein sorgsames Nehmen und Geben, das sich hier eingependelt hat. Ein Beispiel für den gelungenen Balanceakt zwischen Energieerzeugung und Umweltschutz.


Nach der Brücke am Ende des Stausees führt der Weg im Zickzack durch einen lichten Wald und immer weiter hinauf. Das letzte Wegstück auf den Murtersattel ist geröllig und bei Nässe etwas rutschig, aber die Aussicht auf 2545 m ü. M. macht alle Strapazen wett. Apropos Meer: Auf dem Sattel finden sich fossilreiche Gesteine, die Teile von Muscheln, Schnecken und Fischsauriern sowie Überreste von versteinerten Korallenstöcken enthalten. Und auch wenn keine tropische Brise weht, kommt der Ort für eine Pause wie gerufen. Das Spöltal hinter und die Val Cluozza vor sich, den Piz Quattervals zum Greifen nah, das Spiel aus Wind und Licht und Nebel, das sich an einem schönen Herbsttag beobachten lässt – es fällt nicht leicht, sich im Herzen des Schweizerischen Nationalparks sattzusehen. Der Blick reicht bis zum längsten Blockgletscher der Schweiz in der Val Sassa. Blockgletscher sind typische Permafrost-Phänomene und bestehen aus einem Schutt-Eis-Gemisch.


Danach neigt sich der Weg in die Val Cluozza. Murmeltiere, ab und an auch Steinböcke, machen den Abstieg kurzweilig. Schon bald erspäht man die Chamanna Cluozza, die einzige bewartete Hütte des Schweizerischen Nationalparks.
Tag 2
Chamanna Cluozza nach Zernez
Nicole und Turi Naue haben die Hütte, die auf einer kleinen Terrasse gut 80 Meter über der Ova da Cluozza steht, im Jahr 2022 nach einem umfassenden Umbau übernommen. Seither sind sie mit ganzem Herzen am Werk, immer auch unterstützt von Freiwilligen. Nachhaltigkeit gehört zur Philosophie ihres Betriebes – der Umgang mit Wasser ist ein wichtiger Teil davon. Der Schweizerische Nationalpark liegt in einem der trockensten Gebiete der Schweiz, umso mehr gilt es, die vorhandenen Ressourcen gut einzuteilen. Eine Selbstverständlichkeit, findet Nicole Naue, «schliesslich sind wir hier in der Natur nur zu Gast.»
Dank einer Pflanzenkläranlage und drei Wasserfassungen funktioniert der Zu- und Abfluss komplett eigenständig. Es gibt eine Quelle für das Trinkwasser, die gerade für die Küche und die Zubereitung von Getränken reicht. Eine zweite für WC und Waschanlagen – Duschen gibt es nur für das Personal – und eine dritte, die das hauseigene KleinstWasserkraftwerk betreibt. Je nach Jahreszeit und Wetterlaunen ist mehr oder weniger Strom vorhanden. «Im Frühling haben wir traumhafte Zustände mit sehr viel Wasser», erklärt Nicole Naue, «aber im Herbst wird es oft knapp, da haben wir sowohl wenig Wasser- als auch Solarstrom.» Regnet es wiederum ausgiebig, fällt selbst die Telefonverbindung aus. «Wir leben hier wirklich mit den Elementen», fasst die Hüttenwartin zusammen – und man merkt, dass ihr das nichts ausmacht, im Gegenteil.


Als Gast ist diese Leidenschaft für den nachhaltigen und respektvollen Umgang mit dem, was die Natur zu bieten hat, spürbar. Etwa im Gespräch mit dem Hütten-Team, durch kleine Informationshäppchen, die im Haus verteilt sind, oder beim Blick auf die Speisekarte: Es gibt wenig Fleisch, dafür viel Lokales und Saisonales. Um Transportflüge zu vermeiden, kommen in der Chamanna Cluozza selbstgemachte Sirupe statt in PET-Flaschen gefüllte Süssgetränke auf den Tisch – sogar eine «Cola» aus Eberrautenkraut.
Nach einer Nacht in diesem kleinen Paradies führt der Weg vorerst hinunter bis zum Bach. In der morgendlichen Ruhe lohnt es sich, auf der Brücke innezuhalten und dem Plätschern zu lauschen. Danach geht es leicht aufwärts bis zur Querung der Vallun Padratscha, während es immer wieder kleine Bachläufe, Rinnen und Gräben zu traversieren gilt. Murgänge kommen im Schweizerischen Nationalpark häufig vor: Während sie für die Zivilisation verheerend sind, können sie in diesem geschützten Gebiet frei wirken, erforscht werden und neue Lebensräume bieten. Das letzte Wegstück führt steil hinunter, durch lichte Wälder bis zur gedeckten Brücke bei Zernez, die den Spölbach überquert. Wer in die Gegenrichtung wandert, sollte beim Hütten-Kühlschrank einen Halt einlegen: Gäste der Chamanna Cluozza können hier frisches Gemüse für die Hüttenküche einpacken. Beim Nationalparkzentrum ist das heutige Ziel erreicht – oder man gönnt sich zum Abschluss einen Sprung ins kühle Nass, gleich nebenan, im Familienbad Zernez.
Auf einen Blick: Dem Wasser auf den Grund gehen
Der Schweizerische Nationalpark ist ein einzigartiges Freiluftlabor: Durch Wasser ausgelöste Phänomene wie Murgänge, aber auch hochgelegene Seen und wild fliessende Bergbäche werden hier – geschützt vor menschlichem Einfluss – beobachtet und erforscht.
- 800mm pro Jahr regnet es durchschnittlich im Nationalpark, der zu den trockensten Gebieten hierzulande gehört.
- 1918 begannen Pioniere im Schweizerischen Nationalpark, die Blockgletscher zu erforschen.
- 60 km/h beträgt die maximale Geschwindigkeit von Murgängen, wenn sie sich nach Starkniederschlägen durch die Bachtobel wälzen.
- 111 Jahre liefert der Schweizerische Nationalpark bereits Wasser auf die Mühlen der Wissenschaft.
- -40 Grad kann die im Park häufig anzutreffende Lärche überstehen, ohne bei Frost zu verdursten. Ihre Strategie: Sie wirft im Herbst die Nadeln ab.
- 8.5 m tief ist mit dem «Lai Grond» der tiefste und grösste See der Seenplatte Macun, die regelmässig wissenschaftlich untersucht wird.

Autor.
Martin Hoch
Martin Hoch war über sieben Jahre auf Reisen. Begegnungen mit Menschen und seine Liebe zur Natur prägten ihn. Zurück in der Schweiz arbeitet er als Reisejournalist, unter anderem für «Transhelvetica».